An anderer Stelle lag ein anderer Grauwolf gemütlich ausgestreckt auf der Seite und ließ sich die Sonne auf den Pelz scheinen, während er sich in einem Feld herrlichen Pulverschnees streckte.
Dieser Grauwolf war vergleichsweise klein und schmächtig und hatte vier rote Narben auf dem Rücken. Allerdings war er nicht Marvin. Seine Augen waren grün, nicht gelb: Es war Marv, Marvins Chatpersönlichkeit, der Herr des Grauen Berges.
Während er so gemütlich schneebadete, hörte er plötzlich knirschende Pfoten im Weiß. Unwillig hob der Grauwolf den Kopf und erblickte - einen weiteren Grauwolf! Dessen Fell war tatsächlich silbergrau, ohne Schattierungen von Beige und Braun. Er hatte blaue Augen, die ziemlich besorgt aussahen.
"Marv, sag mal, hast du Marvin gesehen?" (Ein höchst interessanter Satz.)
Marv stand auf und schüttelte sich den Schnee aus dem Fell. "Nein. Ich dachte, er wollte sich mit dir treffen."
"Wollte er auch", erklärte Urdoggo. "Wir wollten gemeinsam über viel zu lange Projekte und so reden. Aber er ist nicht aufgetaucht. Dann war ich bei seinen Marktständen in Merkandt. Kein Grauwolf."
"Vielleicht hat Lys ihn entführt", überlegte Marv.
"Nein", erwiderte das blaue Kreaich, das ohne jede Ankündigung über ihm aufgetaucht war.
"Knochi und Cyb haben ihn auch nicht gesehen", fuhr Urdoggo fort.
Marv zuckte nervös mit den Ohren. "Dann gehen uns die Optionen aus. Lys, rufst du bitte Xenon? Er soll mit seiner Aonyx 3 die Pseudonymsiedlungen abfliegen. Sie sollen sich alle hier versammeln."
Lyssa salutierte und sauste davon. Ohne noch eine Geschichtsidee loszuwerden. Ein Beweis dafür, wie ernst die Lage war.
Marvin sah Urdoggo an. "Und du holst uns Lampen und Seile. Wir werden in die Glossarkatakomben müssen!"
Urdoggo schluckte. "Oh weh!"
"Wir treffen uns beim nächsten Absatz im Thronsaal!"
Im Thronsaal der Grauen Feste waren sämtliche Pseudonyme versammelt, nur einer fehlte: Marvin Grauwolf.
"Also gut!", verkündete Marv D. Graue, der auf dem Thron hockte und bis eben besorgt an seinen Krallen genagt hatte. "Wird sonst noch jemand vermisst? Figuren? Anhänge?"
Allgemeines Kopfschütteln folgte.
"Nicht schön", stellte Marv fest. "Denn ich vermisse Nick Calm."
Ein Raunen ging durch die Menge. Die meisten Pseudonyme waren im letzten Jahr dabei gewesen, als Nick Calm die gesamte Chaostruppe in ein Abenteuer nach Marvel-Vorbild gezogen hatte, komplett mit Superkräften und Verkleidungen. Das Abenteuer war zwar sehr episch gewesen, doch nun kamen auch einige fiese Erinnerungen an gefährliche Schlachten und Beinahe-Tode hoch. Die Sorge stand ihnen allen ins Gesicht geschrieben: Würde nun etwas ähnliches geschehen? War Marvin deshalb verschwunden?
Marv öffnete eine kleine Klappe hinter dem Thron und es erschien ein dunkler, spinnwebenverhangener Gang. Nacheinander robbten die Pseudonyme hinein, nur Macchiato und Sepia, die beiden Pferde, blieben zurück.
Stück für Stück arbeitete sich die restliche Truppe in eine finstere Schwärze vor. Sie kamen an den Content Notes vorbei und umrundeten die Notizzetteln, bis sie schließlich ein fernes Licht vor sich sahen.
Die Glossare, die tiefsten Katakomben unter dem grauen Berg, wo alle Figuren aufgelistet und alle Ereignisse verzeichnet wurden.
Marv winkte und ein gelbes Taxi brauste aus der Finsternis heran. Es hielt neben ihnen.
"Damit hätte ich hier unten nicht gerechnet", stellte der Weltenwanderer fest, der sonst kaum zu überraschen war.
"Das Kapiteltaxi", erklärte Marv ihnen, während er einstieg. "Es bringt Kapitel von einem Pseudonym zum anderen, mit der Verschiebefunktion. Manchmal muss man ja Zeug bündeln, weil man sonst jedes Kapitel einzeln erst vom Pseudonym zum Hauptprofil und dann zum neuen Pseudonym schicken kann ... Ist ja auch egal!"
Er machte Platz, sodass sich der Rest mit reinquetschen konnte.
"Zum Verzeichnis Nick Calm!", befahl der Grauwolf.
Das Kapiteltaxi brauste los. Ein Schreckensschrei kam von Timofei, dem Einsiedlerkrebschen, das beinahe von seinem Platz auf der Schulter des Weltenwanderers gepurzelt wäre, als es so plötzlich losging. Der Bruder des Weltenwanderers, der Weltenreise, fing Timo auf.
Mit vielen scharfen Kurven und quietschenden Reifen ging es durch die Dunkelheit der unveröffentlichten Texte zu den hypothetischen Werken und dort schließlich zu den Glossaren aller Geschichten und ihrer Figuren. Hier fanden sie zu der Auflistung von Nick Calms Charakter, Aussehen und Entwicklung.
Die Pseudonyme stiegen aus, manche leicht grünlich im Gesicht. Marv betrachtete den Turm vor sich nachdenklich.
"Sucht nach einem neueren Eintrag. Das Ganze wurde leider von Lys angelegt und ist deshalb furchtbar chaotisch."
"Chaotisch?", schimpfte das Kreaich. "Kreativ, bitte schön!"
"Weißt du, was Nick zuletzt getan hat?", fragte Marv sie.
"Na ja ... es gibt Wichtigeres, als ..."
"Na also. Dann sucht!", befahl der graue Wolf und die Pseudonyme suchten.
Lyssa blieb neben ihm schweben. "Du, Marv, ich hatte eine tolle neue Idee für eine Geschichte!"
Marv seufzte. Er wusste längst, dass 'Nicht jetzt' bei Lys keine Option war. "Lass hören."
"Ein Thriller. Der reiche und erfolgreiche Doppelgänger eines beliebten Kleinkünstlers ist verschwunden. Der Comedian muss ihn jetzt zusammen mit einer bunten Truppe quirliger Charaktere retten. Doch was, wenn es einer von ihnen war?"
Marv sah Lyssa an.
"Perfekt, oder?", fragte das Kreaich.
"Hast du mich gerade als Kleinkünstler und Marvin als meinen erfolgreichen Doppelgänger bezeichnet?"
"... Nein?"
Grimmig wandte Marv sich von Lys ab. Er hörte ein leises Kritzeln. "Ich habe es mal in deinem Terminkalender vermerkt. Du schreibst die Geschichte dann morgen runter."
"Morgen? Eine ganze Geschichte?"
"Ja, wir müssen uns da mal beeilen, sonst schreibst du langsamer als ich erfinde!"
"Marv!", rief in diesem Moment Mobu, der dunkelhäutige Feuerelb. "Hier steht etwas! Hyphurion, sieh dir das mal genauer an ..."
Das schwebende und brennende Dämonenbuch des Elben flog höher an die Nick-Calm-Wand und studierte eine Notiz. Währenddessen sammelten sich die Pseudonyme bei Mobu.
"Was steht da?", rief der Otter Xenon ungeduldig herauf.
"Nick Calm plante offenbar einen neuen Ausflug", berichtete das Hyphurion und schwebte weiter. "Eine weitere Welt war in Gefahr. Er brauchte aber ein Pseudonym, das sich von den anderen absonderte." Das Buch flitze im Zickzack zu einer anderen Stelle. "Ah! Timo wäre auch gegangen, aber das Krebschen ist zu schwach."
Timofei klapperte erleichtert mit den Scherchen.
"Jetzt mach es nicht spannend!", rief Marv. "Hat er Marvin entführt? Fängt jetzt alles mit den Superkräften von vorne an?"
"Ich such ja schon", schimpfte Hyph. "Lyssa hat das kreuz und quer notiert ... Ah, hier! Mal sehen ..." Das Buch drehte sich auf die offene Seite, weil Lyssa über Kopf geschrieben hatte. Immerhin war es nicht Spiegelschrift. "Nick braucht nicht uns alle, sondern nur ein Pseudonym, um eine wichtige Rolle zu spielen, und zwar ..."
Es flatterte ein Stück weiter, während die Pseudonyme unten die Luft anhielten.
"... als Hobbit?", erklang Hyphs Stimme. "Um gegen einen Drachen zu kämpfen?"
Marv wurde blass. "Oh Sterne, der arme Marvin!" Das war ein sehr altes Trauma der beiden.