"Herbert!", donnerte der große Elch. "Hör endlich auf, dich hinter den Zinnen zu verstecken.
'Herbert Bienenspeer' - also Marv - hob vorsichtig den Kopf über den Schutzwall der Sternenzinne. Marvin kauerte gemeinsam mit den restlichen Pseudonymen bei ihm.
Vor den Toren der Burg hatten sich mehrere Elche aufgestellt, die von ihrem König hergeführt worden waren. Eingekreist zwischen den mächtigen Hirschen duckten sich ein paar Biber. Beide Heere wurden von jeweils einem Pferd unterstützt. Sepia und Mac sahen besorgt auf die Festung und zur Seite, wo die Bärenarmee vom gestrigen Abend im Schutz des Waldes lagerte.
Um das Bild zu vervollständigen drohte Rauch am Horizont mit dem Vorrücken der Menschen. Die jedoch niemand beachtete. Die Elche und Biber versuchten, Marv dazu zu bringen, ihnen das Arkenbuch für einen Tag zu überlassen.
"Wir wollen unsere Geschichten ebenfalls zurück!", rief nun Mac in seiner Rolle als Biber-Bard. "Du kannst die Bärenlore nicht für dich bunkern - unsere Geschichten sind verwoben. Wir brauchen alle Seiten, die Bären, die Biber und die Elche. Sieh das doch ein!"
"Das Arkenbuch gehört mir!", rief Marv herunter. "Es ist mein Anrecht!"
"Willst du wirklich darum kämpfen?", fragte der Elchkönig. "Du weißt, dass du nicht gewinnen kannst, nicht mal mit der Armee, die hier angerückt ist. Willst du wirklich Krieg riskieren?"
Marv grinste gefährlich. "Oh ja!"
Die Pseudonyme und Marvin sahen kopfschüttelnd zu. Über dem gelbäugigen Grauwolf schwebte Assyl, für alle anderen unsichtbar. Das Kreaich flog zum Ohr des Wolfs und flüsterte: "Du weißt, was du tun musst."
Am Morgen, als die nicht länger aus Bären bestehende Bärengruppe schnarchte, tapste Marvin leise auf das Tor zu. Er hatte es fast erreicht, als Xenon aus dem Schatten des Torbogens hoppelte.
"Wo willst du denn hin?"
"Ich muss, ähh ... mir mal die Pfoten vertreten."
"Das Tor soll aber zubleiben. Anweisung von Herbert."
"Ja, ich weiß, nur ..."
Xenon legte den Kopf schief. "Verstehe schon. Es ist nicht dein Kampf. Du gehört nach Belletristica, nicht hierher."
"Das ist nicht ... ich laufe nicht weg!"
"Natürlich nicht." Xenon nickte. "Ich falle jetzt mal aus Versehen gegen den Hebel hier. Brauche ein paar Minuten, um mich zu berappeln und das Tor wieder zu schließen. Sehr schwierige Aufgabe. Also als kleiner Otter. Viel Glück, Marvin!"
Marvin trat auf das Tor zu und rückte den Beutel zurecht, den er über dem Rücken trug. Er drehte sich zu Xenon um. "Wir sehen uns morgen Abend."
Im kleinen Lager der vereinten Armee der Biber und Elche marschierte der Elchkönig gereizt auf und ab, während Mac und Sepia ihm schweigend zusahen.
"Ich verstehe nicht, wieso er es riskiert", brummte der Elch. "Die Bären sind noch lange nicht zu ihrer wahren Stärke zurückgekehrt. Würde er uns das Buch überlassen, und sei es nur für einen Tag, könnten wir alle davon profitieren."
"Vielleicht hat er Angst, dass wir dann stärker sind?", riet Mac. Er fühlte sich ziemlich unwohl. Eigentlich müsste doch die Figur von Gandalf langsam mal aufgetaucht sein - also Nick Calm. Doch der war seit dem Anfang der Geschichte nicht wieder erschienen. Und der Hengst wusste nicht, was das zu bedeuten hatte. Er fühlte sich hilflos.
"Das ist albern. Die Bären und Elche waren immer ziemlich gleich stark und die Biber sind - bei allem Respekt - zu vernachlässigen. Aber ohne uns das Buch zu geben, hat Herbert keine Chance gegen die Menschen. Niemand von uns hat die. Wir können genauso gut aufgeben."
"Das würde ich nicht raten!", japste jemand. Die Anwesenden auf der kleinen Lichtung drehten sich um, als mit einem Mal ein Grauwolf vor ihnen auftauchte. Aus dem Nichts! Keine der ringförmig aufgestellten Wachen hatte Alarm geschlagen.
Mac verengte die Augen. "Marvin?"
Der gelbäugige Wolf wedelte zur Begrüßung mit dem Schweif.
"Bist du nicht der Wolf, der meine Gefangenen gestohlen hat?", fragte der Elchkönig.
"Genau der. Ich bin sozusagen der Meisterdieb im Dienste von Herbert Bienenspeer." Marvin legte den Beutel ab. "Und jetzt werde ich ihn retten, und uns alle mit dazu!"
Mit dem Maul zupfte der Elch den Beutel auseinander. Alle schnappten nach Luft, als sie den silbrigen Einband des Arkenbuchs erkannten.
"Woher ...?" Der Elchkönig unterbrach sich. "Warum?"
"Ich tue das nicht für euch. Aber ich möchte den Bären helfen." Marvin zuckte nervös mit einem Ohr, denn die Bären, mit denen er sich angefreundet hatte, waren ja nicht mehr da. Doch es war umso wichtiger, sein kleines Pseudonymrudel zu beschützen, damit alle überlebten und die echten Bären zurückkehren konnten. "Lest es! Wenn alle wieder auf ihrer alten Stärke sind, wird sich Herbert sicherlich bessern. Dann bringe ich ihm das Buch zurück und ihr könnt die Menschen besiegen."
Der Elchkönig nickte und blätterte durch die Seiten.
Als der Abend begann und sich Elche und Biber erneut vor den Wällen der Burg sammelten, während die eine Gruppe Bären auf dem Wall stand und die andere im Wald eine Verteidigungslinie errichtete, traten der Elchkönig und Macchiato erneut vor das Tor.
Marv spähte über die Zinnen. "Was wollt ihr noch hier?"
"Wir dachten, du willst vielleicht teilhaben, wenn unsere Welt zurückkehrt!", rief der Elchkönig herauf. Mac zückte das Buch.
Marv riss die Augen auf und sah panisch zurück zum Turm. Dass das Buch aus seinem Besitz verschwunden war, hatte er bereits gemerkt, und den ganzen Nachmittag über getobt. Nun richtete er den Blick auf die beiden Vierbeiner vor den Toren. "Wie kommt ihr an das Erbrecht meines Hauses?"
"Wir wollen es nur lesen", beschwichtigte der Elchkönig, während Mac das Buch aufschlug. "Dann kannst du es wiederhaben und König der Sternenzinne sein, wie es sich gehört. Wir sehen unsere Geschichten als Begleichung der Schuld deines Volkes. Ja, ihr habt den Drachen hergelockt, aber ihr habt ihn auch wieder vertrieben. Ihr habt die Menschen in dieses friedliche Land geführt, aber mit der Hilfe des Arkenbuchs werden wir sie besiegen. Kein Groll soll mehr zwischen uns sein, König Bienenspeer."
"Ihr dürft es nicht lesen!" Marv sprang auf die Zinnen. "Hört sofort auf!"
Aber Mac richtete den Blick auf die Seiten.
Was nun geschah, während der Hengst Seite um Seite las, war atemberaubend. Die versammelten Armeen fanden sich plötzlich in richtigen Heerlagern wieder, mit Zelten und Bannern verschiedener Fürsten. Die Biber wurden größer, und trugen mit einem Mal einfache Lederkleidung und Waffen in den Vorderpfoten. Die Bären wuchsen zu Ebenbildern der mächtigen Statuen an - die echten Bären, welche zur Unterstützung angerückt waren, die Pseudonyme bleiben unverändert - und die Elche wandelten sich gar in eine Art Zentauren mit Geweih, die in prächtigste Gewänder gekleidet waren und mit glänzenden Rüstungen geschützt wurden.
"Hört auf!", jaulte Marv die ganze Zeit. "Hört sofort auf!"
Auf dem See erschien eine neue Stadt anstelle der Biberburg, mit malerischen, kleinen Brücken über verwinkelten Kanälen, und in der Wildnis am Ufer erschienen weitere Gebäude und uralte Ruinen. In der Ferne konnte Marvin noch blass ein Schloss im Wattlandreich erkennen, ehe die Tannen des Finsterwaldes in die Höhe schossen und der Einsame Berg sich gen Himmel reckte. Die Welt wurde mit einem Mal farbenfroher und größer und weiter und ... intensiver.
Dann blätterte Mac um und mit einem Mal erklang Hörnerschall von den Menschen. Wie Pilze schossen Katapulte und Ballisten zwischen den Bäumen herauf. Hunde bellten im Lager ihrer Feinde, mächtige, gerüstete Kriegstrolle tauchten auf. Und dies waren gefährliche Steintrolle, keine harmlosen Seelen wie jene drei Trolle, die Marvin bereits besiegt hatte.
Entsetzt klappte Mac das Buch zu, als ihre Feinde triumphierend heulten.
"Oh-oh", murmelte Marvin.
"Was habt ihr getan?", brüllte Marv. "Seht nur, was ihr angerichtet habt!"
Die Armee der Menschen war gewaltig. Ihre Waffen waren vielzählig und definitiv mächtiger als die Mauern der Sternenzinne. Die Elche, Biber und Bären vor den Mauern drängten sich nervös zusammen.
"Und das ist nur die erste von zwei Armeen", murmelte Marvin.
Marv warf ihm einen finsteren Blick zu. "Bist du jetzt stolz auf dich, Meisterdieb? Was dachtest du denn? Dass nur die Guten hier eine Vergangenheit haben?" Ohne eine Antwort abzuwarten hüpfte er auf den Buckel einer vorgebeugten, brüllenden Bärenstatue und hob den Kopf in den Nacken. Sein Wolfsheulen war zwar kein Bärenschlachtruf, doch die Armee unten nahm es trotzdem auf.
"Lyssa, Sylas!", rief Marv. "Zu mir! Xenon, öffne das Tor!"
Die Pseudonyme sprangen auf. Der Otter hüpfte zur Torkurbel.
"Was tust du da?", rief Marvin ihm zu. "Marv, du kannst da nicht rausgehen!"
"Irgendjemand muss es tun!", erwiderte Marv mit kampfbereit glitzernden Augen.
"Aber die Menschen ... es sind zu viele."
"Wir müssen dieses Land verteidigen! Sie haben ihre Geschichten gerade erst wiedergefunden. Sie dürfen sie nicht wieder verlieren." Damit rannte Marv los, gefolgt von seinen Pseudonymen, durch das Tor der Burg und hinaus auf das Schlachtfeld, wo sich Bären, Elche und Biber anschlossen.
Marvin sah mit weit aufgerissenen Augen zu, wie die drei Heere in die Schlacht stürmten, dem Tod entgegen.