Marv blühte in seiner gefährlichen Rolle regelrecht auf. Er scheuchte seine Gruppe herum, schimpfte mit Xenon, weil dieser den merkwürdigen Lachsalkohol der Biber probieren wollte, und jagte dem armen Mac sichtlich Angst ein.
Marvin beobachtete das Verhalten seines Hauptprofils mit wachsender Sorge. Marv war aus irgendeinem Grund entschlossen, in den Finsterwald zu kommen. Aber wieso?
Im Laufe des Tages traf sich Marv mit dem Weltenreisenden in einem abgelegenen Teil der Biberburg. Wenig später schickte er die beiden Eisbären weg, Herberts Neffen, und diese kehrten nicht wieder. 'Hwirg' und 'Zwirg' kehrten wieder, aber sie waren durch ein blaues und ein goldenes Kreaich ersetzt worden.
"Wieso bringst du sie in Gefahr?", murmelte Marvin angespannt, der das alles natürlich beobachtet hatte. Und - noch viel wichtiger - warum machte der Weltenreisende bei diesem Wahnsinn mit? War er noch nicht lange genug dabei, um sich gegen das Hauptprofil durchzusetzen?
Im Verlauf dieses letzten Austausches wurde Marv auch Zwarb und Zwarg los. Diese beiden entsprachen Dori, dem Heilerzwerg, und Nori, über den Marvin nun absolut gar nichts wusste. Doris Rolle wurde von Mobu Cajatoshija und dem Hyphurion eingenommen, Noris durch die wandelfähige Fuchsmaske, die in Gestalt der rothaarigen, schwarzgeflügelten Asta unterwegs war. Sie war eine Feantie, eine Art düsterer Engel aus dem Runenwald-Pen-and-Paper.
Mobus Wahl erschien Marvin sinnvoll und Asta musste wohl einfach eine Lücke füllen. Mehr Sorgen machten ihm die Kratzer, die beide trugen. Sie hatten vermutlich insgesamt vier Bären überwältigen müssen. Jetzt waren nach seiner Rechnung nur Sepia, der kleine Todo und der Weltenreisende selbst auf freiem Fuß, und in ihrer Gruppe verblieben zwei der originalen Bären. Diese beiden hätte Marvin eigentlich auch gleich ersetzen können, aber dann hätten seine Pseudonyme das Versteckspiel aufgeben und geschlossen fürs Umkehren stimmen können und das wollte er wohl nicht riskieren.
Marvin gefiel das alles immer weniger.
Am Morgen nach ihrer Flucht aus dem Elchreich öffneten die Biber den "Staudammweg". Das hieß, sie räumten ein paar Äste aus dem Weg, bis man annähernd trockenen Fußes über den riesigen Wall marschieren konnte, der den Fluss zu einem großen See staute. Während sie aufbrachen, waren am Horizont bereits zwei dunkle Gruppen zu sehen, die sich wie Striche vor bewegten. Die Elche und die Menschen dahinter.
Marvin sah zu den großen Hirschen und verengte die Augen. Lief dort ... ein Pferd ... knapp vor ihnen? Sepia? Hatte sie sich ebenfalls eine vakante Rolle geschnappt?
Er holte zu Marv auf, der an der Spitze der Gruppe lief.
"Hast du einen Plan?"
"Ja. Wir töten diesen Drachen und holen uns unser Land zurück."
"Unser Land? Marv, das ist ... nur eine Geschichte! Unser Land liegt in Belletristica, nicht im Finsterwald. In Belletristica und Phantasma."
"Der Finsterwald ist unser rechtmäßiges Erbe."
"Du bist nicht wirklich Herbert, das ist dir schon klar?" Nur halbherzig kontrollierte Marvin, dass die restlichen Figuren sie nicht sehen konnten. Waren ja ohnehin nur noch die beiden Lippenbären. "Was ist aus unserem Plan geworden, dich wieder zurückzutauschen?"
"Dein Plan", verbesserte Marv. "Und der steht noch. Der Weltenreisende hat nur Schwierigkeiten, Herbert zu besänftigen. Wir brauchen etwas Zeit."
"Zeit? Wie viel Zeit haben wir denn? Du bist in Gefahr, Marv. Und Lyssa und Sylas nun auch! Wenn wir euch verlieren ..."
"Das werdet ihr nicht." Marv sah ihn ernst an. "Außer, dein Gemecker macht den Drachen zu früh wach."
Marvin klappte den Mund zu.
Sie wanderten zwei Stunden über den Damm. Genug Zeit, dass jeder von ihnen mindestens ein unfreiwilliges Bad nehmen konnte. Währenddessen rückten die Armeen von Elchen und Menschen, und damit die Drohung eines aufziehenden Krieges, immer näher.
Marvin sah immer wieder besorgt zurück. Marv sprach nur von seinem Plan, sich an den Drachen heranzuschleichen, dann Seestadt und das ganze Land zu neuem Reichtum zu bringen. Dass es noch einen dritten Teil der Geschichte gab, schien er vergessen zu haben. Ausgerechnet angesichts der gut sichtbar vorrückenden Feinde!
"Sie wollen sich den Berg holen. Ihn uns klauen", erklärte er seinem Gefolge. Nur Gwerg und Gwerf hörten ihm ernsthaft zu. Der Rest sah zweifelnd zu Marvin. Er konnte aber auch nur ratlos die Ohren anlegen. Er wusste nicht, was Marv vorhatte. Woher auch?
Am Ende des Dammes erreichten sie das Seeufer, an dem sich ein Tannenwald erhob, unter dessen Geäst es entsprechend seines Namens ziemlich finster war. Die Bäume wurden immer riesiger, je weiter sie gingen. Dann hielt Marv an und sog die Luft tief ein.
"Riecht ihr es?", fragte er an seine Gefährten gewandt. "Den Duft der Heimat?"
Gwerg und Gwerf nickten mit Tränen in den Augen. Die Vertretungsbären hielten inne, schnupperten und nickten dann verwundert. Und sogar Marvin spürte einen merkwürdigen Windzug im Pelz. Es war eine Art Kribbeln, das ihn an ein ganz bestimmtes Gefühl erinnerte. Der Moment, wenn eine neue Geschichtsidee erwachte und unbedingt aufs Papier wollte. Der Rausch einer neuerweckten Welt. Der Sog einer neuen Idee.
"Kreativität", hauchte Lyssa. Assyl, der noch immer ständig über Marvin schwebte, machte leise "Ohhh."
"Warum gibt es hier wilde Kreativität?", fragte Marvin leise.
"Keine Ahnung", antwortete das rote Kreaich.
Marv setzte sich wieder in Bewegung. "Leise jetzt. Wir sind nah."
Sie schlichen weiter. Während Marvin dem Anführer folgte, hörte er die Pseudonyme flüstern.
"Ich erinnere mich ... wieso erinnere ich mich?", hauchte Asta.
"Als wären wir schon mal hier gewesen." Der Weltenwanderer rieb sich das Kinn. "Vielleicht hat diese Geschichte noch Kraft und zieht uns ... hinein."
"Das klingt nicht gerade schön", meinte Asta schnippisch. "Ich will nicht für immer in dieser Welt gefangen bleiben."
"Dann lass uns hoffen, dass wir entkommen können." Unter dem Hut hervor grinste der Weltenwanderer. "Ist doch lustig!"
"Lustig?!" Asta schüttelte den Kopf.
"Leise!", zischte Marv vorne und alles verstummte. Vor ihnen lichtete sich der Wald. Die letzten Meter bis zum Rand einer großflächig schwarzverkohlten Lichtung legten sie mit angehaltenem Atem zurück.
Gerippe von Bäumen ragten aus der Asche der Erde. Das Land war bis auf die Wurzeln vernichtet. Nur in der Mitte der riesigen Lichtung lag, groß wie ein Haus, ein riesiger, grüner Drache zusammengerollt auf einem Hort, der nicht aus Gold bestand. Die gewaltige Feuerechse schnarchte auf einem riesigen Stapel Bücher, mehr, als Marvin in allen Bibliotheken seines Lebens zusammen erblickt hatte.
"Das ist der Schatz?", fragte er irritiert.
Marv drehte sich zu ihm um. "Jetzt, Meisterdieb, schlägt deine große Stunde."
Alle Blicke richteten sich auf Marvin. Der gelbäugige Grauwolf sah hinter sich, doch da stand niemand mehr. Er sah wieder nach vorne ... und schluckte.