Am nächsten Abend erwachte Marvin von lautem Bärengelächter.
Verschlafen sah er sich um. Er lag auf einem Strohlager im Stallteil der großen Höhle. Neben ihm käute eine Kuh wieder. In der Abendschwüle drang das Summen von Bienen herein. Licht schimmerte durch die Fenster, das von Fackeln stammen musste.
Nachdem sich der Wolf einmal gestreckt hatte, folgte er den Stimmen nach draußen. Dort fand er die Bären und den Weltenwanderer in einer gemütlichen Runde um ein Lagerfeuer vor, mit frischem Lachs, gebratenem Lachs, Lachssushi und etwas Honig.
Marvin brauchte einen Moment, um zu bemerken, dass sich noch ein Bär in der Gruppe befand. Ein neuer Bär mit bläulichschwarzem Fell, sehr groß, aber mit einer ungewöhnlich kurzen Schnauze. Marvin betrachtete ihn eine ganze Weile, dann machte es 'Klick'. Es war ein Bär, der ein wenig menschenähnlich aussah. So ähnlich wie Bärengestaltwandler in menschlicher Form etwas Bärisches an sich hatten, nur weniger episch.
Der Weltenwanderer und Zmerk bemerkten den Grauwolf und winkten ihn zu sich. Mit angelegten Ohren - Marvin konnte Partys so gar nicht leiden! - huschte er zu ihnen.
"Auch etwas Lachs?", fragte der Weltenwanderer.
"Ein Stückchen", murmelte Marvin und sah sich um. "Wie spät ist es?"
"Noch nicht Mitternacht. Wir dachten, wir lassen dich schlafen."
"Aber die Menschen sind uns doch auf den Fersen. Wir müssen weiter!" Nervös sah der Grauwolf zu den Bergen zurück.
Zmerk klopfte ihm auf den Rücken, worauf sich der Grauwolf mehr oder weniger ins Gras kauern musste, und brummte: "Keine Sorge. Beorn hilft uns. Er kann Bären zwar nicht leiden, aber Menschen noch weniger."
"Er ... ist halb Bär, halb Mensch, oder nicht?"
"Jepp. Die menschliche Hälfte hasst Bären und die bärische Hälfte Menschen. Zu unserem Glück ist er gerade ein Bär."
Marvin tauschte einen Blick mit dem Weltenwanderer und schüttelte leicht den Kopf. Wenn er dieses Abenteuer überlebte, würde er Nick aufsuchen und zur Rede stellen. Wenn der Einäugige schon Leute entführen wollte, dann wenigstens in Welten, die nicht so ... albern waren!
Die kleine Feier der Bären brachte Marvin hinter sich, indem er die meiste Zeit unter einem Tisch hockte und herabgefallene Lachsstückchen stahl. Schließlich entdeckte ihn allerdings Herbert, zerrte den zappelnden Wolf aus seinem Versteck und setzte ihn vor Beorn.
Der große, blauschwarze Bär musterte Marvin. "Was ist das für ein mickriger Bär?"
"Das ist Marvin, ein Wolf", erklärte Herbert.
"Ein Grauwolf, aus bestem Hause", fühlte sich Marvin bemüßigt, hinzuzufügen. Er ließ ja vieles mit sich machen, aber 'mickriger Bär'? Irgendwo gab es eine Grenze!
Der blaue Bär musterte den Grauwolf von oben bis unten und stieß ein nicht sonderlich beeindrucktes Schnauben aus.
"Er ist ziemlich gewitzt", meinte Herbert. "Hat uns jetzt schon zwei, drei Mal das Leben gerettet."
Beorn wirkte nun doch etwas beeindruckt. Dann wechselte sein Blick. Er schien sich zu fragen, ob ihm hier ein Grauwolf aufgebunden wurde, oder ob er sich um die Überlebensfähigkeiten von Herberts kleiner Gruppe sorgen musste.
"Wieso erzählst du mir das?", fragte Beorn.
Das interessierte Marvin ebenfalls. Er hatte das Gefühl, dass Herbert mit ihm angab. Bloß wieso?
"Damit später jeder weiß, dass wir es diesem tapferen Grauwolf verdanken, wenn der Drache tot ist", verkündete Herbert grinsend.
Ein Schauer lief durch Marvins Fell, der auch Beorn nicht entging.
"Natürlich." Ihr Gastgeber schnaubte. "Wenn ich höre, dass der Drache tot ist, werde ich mich höchstpersönlich bei Marvin bedanken."
"Das ist wirklich nicht ..."
"Das wäre angemessen, ja", unterbrach Herbert den Grauwolf.
Beorn nickte. "Dann solltet ihr jetzt aufbrechen. Denke ich mal. Bevor euch der Drache noch davonfliegt."
Nach diesen Worten erstarb die Party recht rasch. Beorn beherrschte einen finsteren Blick, der sogar die feierfröhlichen Bären rasch in ihre Schranken verwies. Dann führte er sie im Licht des Mondes hinter den Hügel, wo ein Flugzeug stand.
Marvin fielen fast die Augen aus dem Kopf. "Ein Flugzeug? Wieso hat der Kerl ein Flugzeug?"
"Hättest du dir Bären auf Pferden vorstellen können?", flüsterte der Weltenwanderer ihm zu.
"Schon klar, aber ein Flugzeug? Wieso haben wir dann überhaupt die Riesenadler gebraucht?"
"Du hast doch mit Herbert über die Geschichte dieser Welt gesprochen, oder?" Der Weltenwanderer vergewisserte sich noch einmal, dass ihnen niemand zuhörte. Doch Herbert überzeugte gerade seine Neffen, Hwirg und Zwirg, in das Flugzeug zu steigen, und der Rest stand hinter den dreien an. Also hockte er sich zu Marvin. "Dieser Ort wurde vernichtet. Tiefgreifend, auf der Worldbuilding-Ebene. Ich vermute, wenn der Drache erst einmal tot ist, wird hier alles auch mehr Sinn ergeben."
"Dann sind wir hier aber weg!"
"Ist doch egal. Wir können keine Figuren in einer so vernichteten Geschichte zurücklassen. Oder wie siehst du das?"
Marvin legte den Kopf schief und sah wieder zu den Bären. Dann nickte er langsam. "Du appellierst wieder an meine Moral, und es wirkt."
"Du bist eben ein guter Kerl." Der Weltenwanderer wuschelte dem Wolf durch das Kopffell, richtete sich wieder auf und trat zum Flugzeug. Marvin folgte.
Dem Flugzeug ging knapp vor dem Wald der Sprit aus und es sank herab, rollte über die Wiesen und kam mit der Nase einige Haarbreiten vor dem ersten Baum zum Stehen.
"Natürlich. Weiter als bis zum Wald bringt Beorn uns nicht", murmelte der Weltenwanderer und stieg als erster aus. An der Grenze des Gehölzes versammelten sich die Bären und ihre beiden nichtbärischen Begleiter und stierten in die Schatten unter den dichten Kronen. Ein schwacher Trampelpfad war auszumachen, nicht mehr als etwas platteres Gras zwischen Moos, Dornenbüschen und den dichtwuchernden Bäumen.
"Das ist also der Finsterwald?", fragte der Weltenwanderer.
"Nein", murmelte Marvin halblaut, ehe einer der Bären was mitbekam. Wandi musste ja seine Tarnung als Zjerg aufrecht erhalten. "Das ist der Düsterwald. Der Finsterwald kommt erst noch."
Der Weltenwanderer sah nochmal zum Wald. "Wenn das nur der Düsterwald ist, will ich den Finsterwald echt nicht kennenlernen."
"Wir müssen den Bären nun mal helfen, in einer ordentlichen Geschichte zu leben. Deine Worte." Marvin sah spöttisch zu ihm auf. "Und jetzt ab in den Wald - und unbedingt auf dem Pfad bleiben."
"Ich geb dir gleich Pfad", murmelte der Weltenwanderer. "Wir wissen beide, dass das nicht klappen wird ..."