Sie hatten in der Umgebung der Trolle eine Weile nach einem Trollhort gesucht. Irgendwo müssten sich die drei verderbten Kreaturen ja am Tage Unterschlupf finden. Allerdings stießen sie auf keine Höhle oder Kaserne oder ähnliches. Schließlich zogen Marvin, Nick und die Bären unverrichteter Dinge weiter.
Während sie durch die Wälder zogen, ohne dass viel Spektakuläres geschah (eine Verfolgungsjagd mit einem Kaninchenschlitten und wargreitenden Orks hielt keiner von ihnen für erwähnenswert, insbesondere, da sie sich während der ganzen Geschichte in einem Erdloch versteckten), wurde an anderer Stelle ein Grauwolf mit grünen Augen von besorgten Pseudonymen umringt.
"Das heißt, Marvin ist im "Hobbit"?", fragte der Weltenwanderer. "Aber da kennt er sich doch aus, oder nicht? Wo ist das Problem?" Der Weltenwanderer war, das muss man zu seiner Verteidigung erwähnen, sehr daran gewöhnt, durch fremde Welten zu irren.
"Denkt doch mal nach", meinte Marv. "Als wir im Marv(el)-Universum waren, gab's da ja auch keine echten Superhelden. Nur uns. Und die Gegner waren auch ... na, irgendwie angepasst."
"Das stimmt."
Marv nickte. "Also steckt Marvin in einer Welt fest, die nur halb dem "Kleinen Hobbit" entspricht, und damit noch genug Überraschungen bereithält, um ihn in ernstliche Schwierigkeiten zu bringen! Wir müssen ihm helfen! Außerdem ist er mehr wie der Buchcharakter Marvin. Er ist kein Nerd, nicht so wie ich. Wer weiß, ob er die Welt überhaupt erkennt."
Die Pseudonyme nicken einträchtig.
"Aber wie?", fragte der Weltenreisende, der Bruder (oder vielleicht Klon, das wussten nur die beiden wirklich) des Weltenwanderers. Er hatte noch nicht so viel Erfahrung mit Nick und seinen Welten, weil er erst elf Monate dabei war. "Wie kommen wir zu ihm?"
"Das ist die Frage", stellte der Weltenwanderer fest. "Ich denke, wir müssen einen sehr fiesen Trick wählen. Diese Geschichte, in der Marvin feststeckt, hat keinen Platz für viele von uns. Wir müssen ein Vakuum erschaffen und dann füllen."
Ratlose Blicke begegneten dem verhüllten Menschen.
"Wir müssen Figuren aus der Geschichte entführen und ihren Platz einnehmen. Das erzeugt ein Plothole, aber die Logik der Welt wird versuchen, das zu flicken. Die Figuren sollten es also ignorieren. Wenn wir dann cool bleiben, fällt niemandem etwas auf", erklärte er. "Also, außer Marvin, hoffentlich. Wenn er wirklich in einer Version des "Hobbits" ist, dann ist er umringt von Oris, Doris und Noris, da fällt ein Urdoggo oder Xenon schon mal auf."
"Aber was wird dann aus den Figuren?", gab Mobu zu Bedenken.
"Die verfrachten wir solange nach Belletristica und geben ihnen ein paar Brotchips. Wir müssen sie nur entführen. Das sind aber nur ein paar Zwerge. Kinderspiel!"
Ein knapp drei Meter hoher Höhlenbär stapfte der Wandergemeinschaft grimmig voran. Ihm folgten zwölf kampferprobte, nicht besonders leicht zu entführende Bären, dann ein Mensch und schließlich ein Grauwolf, der ab und zu stehen blieb, um über einen blauen Fleck zu lecken.
"Wie weit ist es noch bis Bruchtal?", fragte er Nick.
"Bis wohin?", fragte der Einäugige zurück.
"Bruchtal." Marvin sah auf. "Na, dieser hübsche, friedliche Ort zwischendrin?"
Nick schüttelte den Kopf. "Friedlicher Ort? Nie gehört."
"Wir kriegen doch mal eine Pause, oder?"
"Oh, ja. Wir halten gleich an einem kleinen Wasserfall, machen ein Picknick, erhalten einen wichtigen Hinweis und ziehen dann gestärkt weiter."
"Echt?"
"Nein! Träum weiter." Nick schüttelte den Kopf. "Wir sind hier ja nicht bei Disney! Also, nicht mehr. Und noch nicht. Tolkiens Arbeit gehört denen sicherlich auch bald."
Marvin seufzte. "Das heißt also, wir machen eine Mittelerde-Parodie ohne die ganzen hübschen Kulissen?"
"Das ist tatsächlich das Problem dieser Welt", erklärte Nick ihm bereitwillig. "Der Drache hat alle Kulissen verbrannt. Deshalb gibt es nur noch ein paar trostlose Tannenwälder und ein, zwei Berge."
Nun hob Marvin doch interessiert den Blick. "Du meinst also, das hat alles mit dem größeren Plot zu tun?"
Nick nickte. "Einst war diese Welt wunderschön. Sie war weit und bunt, detailliert und liebevoll gestaltet und unzählige Wesen lebten auf ihr in Frie... in einem komplexen Geflecht aus Konflikten und Bündnissen, gewachsen auf jahrtausenderalter Lore."
"Das klingt schön", stellte Marvin fest.
"Ein richtiges Epos", erklärte Nick. "Mit liebevoll gestalteten Figuren, die alle eine Persönlichkeit hatten, mit Rätseln und verborgenen Geheimnissen an allen Ecken, mit Freundschaft, die das Böse bezwingen konnte."
"Und dann kam der Drache?"
"Und dann kam der Drache." Der Mensch seufzte. "Er war so viel stärker als alles, was wir ihm entgegenzusetzen hatten. Die Helden verloren ihren Mut und uralte Bündnisse zerbrachen. Freunde trennten sich im Streit, Flammen verschlangen die Lehren des Altertums. Plötzlich wurden kleinliche Zwiste der Vergangenheit heraufbeschworen. Dort eine gestohlene Perlenkette, hier ein verlorener Edelstein ... Man warf sich gegenseitig all diese Dinge vor und ging auseinander."
Marvin lauschte mit schiefgelegtem Kopf. "Und die Bären?"
"Sie verloren dadurch ihre Heimat. Einst lebten sie im buntesten, herrlichsten Land von allen, dem Bärenland. Ein weites Tal voller Blumen, unter Wolken aus Bienen und Schmetterlingen, wo Vögel in den Tannen sangen ... Nun ist es der trostloseste Flecken Erde und das Heim des Drachen."
"Und jetzt wollen sie nur ihre Heimat zurück." Die Motivation kam dem Grauwolf vertraut vor. Er musste an seine kleine Höhle denken.
"Darum geht es hier, ja." Nick nickte mal wieder. Er fand es vermutlich witzig, zu nicken, weil der niederschreibende Autor sich dann jedes Mal blöd vorkam, wenn er 'Nick nickte' schreiben musste. "Der Drache haust hier jetzt schon so lange, dass die frühere Schönheit dieses Landes kaum noch in der Erinnerung existiert. Nun gibt es hier nur noch Trolle und gefährliche Spammer, Niedertracht und Streit."
"Ich verstehe. Der Drache ist also eine Metapher."
Nick sah ihn an.
"Es ist kein riesiger Feuerdrache, der passt ja auch gar nicht ins Budget, wenn wir hier nicht mal tolle Landschaften haben. Sondern nur so eine Art Personifizierung von Uneinigkeit."
Nick sah den Wolf ernst an. "Der Drache ist real. Mit realem Feueratem und realen Krallen."
Marvin seufzte. "Na, einen Versuch war es wert."
Nick beugte sich ein wenig herab, um dem Wolf den Rücken zu täscheln.
"Weißt du eigentlich, woher ich diese Narben habe?", sagte der Grauwolf.
Nick zuckte zusammen. "Wir machen doch gar keine Batman-Parodie!"
"Das war auch nicht meine Joker-Impression, sondern ernst gemeint!" Marvin verrenkte sich leicht den Hals. "Die vier roten Narben da, auf meinem Rücken. Schon mal bemerkt?"
"Natürlich. Tschuldigung." Nick wich seinem Blick an.
Marvin atmete durch. "Alles gut. Du hast mir nur meine theatralische Erzählung zunichte gemacht."
"Tut mir leid. Woher hast du jetzt die Narben?"
"Das war ein Drache", erzählte Marvin. "Die Geschichte kann ich aus Spoilergründen nicht in Gänze erzählen, doch es war einer meiner ersten Kämpfe. Ein Schwarm Drachen attackierte mein Rudel und unser Alpha, Jupiter, wurde getroffen. Er lag wehrlos am Boden, als ein Drache mit Säureatem auf ihn zuhielt. Eine besonders gefährliche Säure, die giftig nachwirkt. Selbst wenn sie Jupiter im ersten Moment nicht töten würde, das Gift könnte ihn über Stunden qualvoll verenden lassen. Ich sprang dazwischen, als er spie."
Ein Schauer rollte durch Marvins Fell.
"Da hat er dich so verätzt?"
"Ich kam erst eine Woche später zu mir. Im Kreise von Jupiters Familie. Er hatte überlebt und mich und mein Rudel irgendwie in Sicherheit gebracht." Marvin sah traurig in den Himmel. "Damals habe ich nur ein wenig Rückenfell verloren. Im Krieg gegen die Drachen sollte ich noch sehr viel höhere Verluste erleiden."
"Ich denke, ich verstehe", murmelte Nick.
Marvin sah ihn an. "Dann weißt du, dass ich nichts weniger möchte, als Drachen zu bekämpfen."
"Ich weiß." Nick nickte. Zum dritten Mal. "Aber wir haben keine Wahl."