Die großen Vögel waren glücklicherweise stark genug, um einen Haufen Bären zu tragen. Sogar Herbert konnte ein vor Anstrengung krächzender Adler schleppen. Der Herr der kleinen Unternehmung hing reglos in den mächtigen Klauen. Besorgte Bären und ein besorgter Weltenwanderer sahen zu ihm und hofften auf baldige Genesung. Nur Marvin hatte ganz andere Probleme. Höhenangst nämlich. Er kauerte zitternd auf dem Rücken eines Adlers und durchlebte hinter geschlossenen Lidern wieder und wieder den sehr kurzen Sturz von der Klippe auf den Adler, der ihn zuverlässig auffing. Einen Moment hatte es aber gar nicht so ausgesehen, als würde ihn irgendjemand auffangen. Das Entsetzen hat sich tief eingegraben.
Glücklicherweise landeten die Riesenadler bald auf einem zahnförmigen Bergplateau am Rand einer großen, weiten Wiese. Nachdem sie Herbert sanft auf den Stein gebettet hatten, warfen sie die anderen Bären, den Menschen und den Wolf ebenfalls ab, kreisten noch einmal, ließen sich vom Weltenwanderer per App bezahlen und verschwanden ebenso rasch zwischen den Wolken, wie sie aufgetaucht waren.
Niemand beachtete die gefiederten Götter. Die Bären eilten an die Seite ihres Königs. Marvin drängelte sich vorsichtig zwischen den großen Leibern hindurch. "Herbert? Herbert! Sag was!"
Der große Höhlenbär blinzelte und fixierte den Wolf, der mit einem hörbaren Schlucken erstarrte.
"Ich dachte immer, du wärst ein großer Feigling, Marvin Grauwolf."
"Ähh ..."
Der Bär erhob sich schwerfällig. "Ich habe mich getäuscht. Du bist ein noch größerer Dummkopf!"
Marvin zog langsam die Rute ein und machte Anstalten, zurückzuweichen. Der Bär packte ihn kurzerhand mit der Pranke und drückte ihn an sich. "Wie wir alle! Du bist wahrhaft einer von uns."
"Ich ... danke ... bitte ..." Zwischen dem dichten Wolfspelz hatte Marvin nicht genug Luft, um sich über das merkwürdige Kompliment klarzuwerden. Er fühlte sich allerdings an den Flauschbären erinnert, jenen mächtigen Gott Belletristicas, und an das jahrelange Knuddeltraining in der Taverne, also flauschte er den großen Höhlenbären zurück und japste erleichtert nach Luft, als er endlich abgesetzt wurde.
Die Blicke der Bären glitten fort vom Gebirge, über das Land. Dort, bläulich am Horizont, erkannte nun auch Marvin eine Bergspitze.
"Ist das ...?" Marvin spitzte die Ohren.
"Der Einsame Berg. Direkt neben dem Finsterwald." Herbert nickte mit einem wehmütigen Lächeln. "Unsere Heimat."
"Wo?", flüsterte der Weltenwanderer Marvin halblaut zu. "Ich sehe nur Nacht."
"Ist für Menschen vielleicht nicht zu erkennen", erwiderte der Grauwolf. "Dort, unter dem Sternbild des Schlangenträgers."
"Des was? Wie weit ist das vom Kleinen Wagen entfernt?"
Marvin gab es auf. Einem Menschen konnte man einfach nicht mit Sternen kommen!
Einen Moment standen die Bären da, versunken im Anblick der fernen Landmarke, ehrfürchtig und andächtig.
Dann stieß Herbert ein Brummen aus. "Gehen wir."
Sie stiegen von der Felsnadel herunter und trabten über die Wiesen. Der Weltenwanderer konnte gar nicht so leicht mit den Vierbeinern mithalten. Eine ganze Weile joggte der verhüllte Mensch zwischen den Bären, aber schließlich wurde er langsamer.
Am Horizont dagegen dräute das Licht eines neuen Tages.
"Wenn es heller wird, werden die Menschen uns weiter verfolgen", erkannte Herbert. Drängend sah er sein Gefolge an. "Wir müssen uns sputen."
"Wir brauchen Deckung", warf Marvin ein. Er sah sich suchend um. "Der Wald ist noch zu weit entfernt."
Tatsächlich zeigte sich am Horizont das Dunkel eines schützenden Waldes. Doch bis dorthin wäre es mehr als eine Tagesreise. Unmöglich, das noch in den wenigen Stunden der Dämmerung zu schaffen.
Der Weltenwanderer musterte die ratlosen Bären scharf, dann räusperte er sich. "Hatte Nick nicht irgendwas gesagt? Über einen Verbündeten in diesem Landstrich?"
Herbert furchte die Brauen in der Fellmaserung. "Ja, stimmt, da ist doch dieser zwielichtige Typ! Du hast recht, Zjerg. Den hatte ich vergessen."
'Zjerg', also der Weltenwanderer, grinste erleichtert. Er hatte nämlich nur geraten.
"Beorn", flüsterte er Marvin zu, als sie den Bären Seite an Seite folgten. "Ich frage mich, wie er hier heißt."
"Ich kenne das Buch auch", murrte Marvin. "Ich frage mich eher, was er hier ist. Wenn er sich im Buch schon in einen Bären verwandelt, in was verwandelt er sich dann hier? Godzilla?"
"Schwer zu sagen." Unter der Hutkrempe hervor sah sich der Weltenwanderer lange um. "Diese Welt ist schwierig einzuschätzen. Klar, sie basiert auf dem Hobbit, aber dass aus Zwergen Bären wurden, erscheint mir etwas sehr ... random."
"Vielleicht, weil ich ein Wolf bin", meinte Marvin. "Damit wir auf ... einer Wellenlänge sind. Oder nach der Logik, wenn Wölfe hier Hobbits entsprechen, müssten Zwerge etwas größer als Wölfe sein ..."
"Aha? Und Elfen sind dann?"
Marvin zuckte mit der Rute. "Elche?"
Herbert drehte sich um, als das laute Prusten des Weltenwanderers erschall. "Was ist denn so witzig? Trödelt nicht! Der Tag beginnt bald!"
Hastig schlossen sie zu den Bären auf. Diese waren auf dem Weg zu einem großen Hügel, der voller Bienenkörbe stand. Es gab auch eine Weide mit Kühen, einen Holzklotz mit Beil zum Holzhacken, kleine Fenster in den Seiten und eine Wäscheleine. Marvin stellte die Ohren auf. Das sah gemütlich aus! Endlich!
Die Bären witterten allerdings immer misstrauischer.
"Hat Nick Calm noch irgendwas über diesen Ort gesagt?", fragte Herbert in die Runde.
Allgemeines Achselzucken der Zwerge kam ihm zur Antwort.
Geduckt krochen sie auf einen runden Höhleneingang mit Tür zu, als draußen ein Geräusch erklang.
Es klang wie ... Jodeln.
"In wessen Haus sind wir hier?", fragte Zwarb nervös, der schüchterne Kragenbär.
Der Malaienbär Zwarg zog ihn von der Tür zurück. "Bleib bloß hinter mir."
Marvin hatte zwar langsam die Orientierung über die Bärennamen, ihre Vorlagen-Zwerge und alles weitere verloren, doch er glaubte, Ori und Dori in ihren zu erkennen - den unbedarften jüngeren Chronisten und seinen älteren Bruder, der auf ihn aufpasste.
Nun duckten sich die Bären ins Innere der Höhle, die ebenfalls gemütlich eingerichtet war. Sessel, ein Sofa, ein großes Bett, natürlich Tische, Stühle, aber auch ein (momentan leerer) Kuhstall ...
"Das ist ein Menschenhaus!", erkannte Marvin verwundert.
"Es ist ein Fluch, habe ich gehört", wisperte Zmerk, der Brillenbär. "Er ist ein Hautwechsler. In der Nacht ist er ein Bär, aber im Licht des Tages verwandelt er sich in die Abscheulichste aller Kreaturen! Einen ..."
"... Menschen?", führte der Weltenwanderer spöttisch zu Ende.
"Genau, Zjerk, einen ..." Zmerk stockte. Nahm er wahr, dass Zjerk nicht länger ein Bär war? Er schüttelte verwirrt den Kopf.
"Jedenfalls sind wir hier für den Tag sicher", brummte Herbert und wuchtete sich auf das Sofa. Das unterband jeden Streit, der aufkeimen könnte. Marvin suchte sich ein sicheres Fleckchen mit dem Weltenwanderer, und erstaunlicherweise gesellte sich Zmerk zu ihnen. Sie kuschelten sich zusammen und harrten der Dinge, die ihnen diese wirre Land noch bieten würde ...