"Ich hasse Schlüssel", stellte Marvin fest.
Assyl kicherte hämisch, statt irgendwie hilfreich zu sein, während der Grauwolf verzweifelt versuchte, das Zellentor zu öffnen. In der Zelle saßen zwei Bären - Gwerg und Gwerf, die Lippenbären - und feuerten ihn an. Oder so ähnlich.
"Los! Mach einfach auf, damit wir abhauen können! Wird's bald?"
"Ich mach ja, ich mach ja!", winselte Marvin. Endlich hatte er den richtigen Schlüssel im Schloss. Dieser drehte sich, es klickte und das Vorhängeschloss, das die Flechtenwände zusammenhielt, fiel.
Gwerg und Gwerf traten erleichtert nach draußen.
"Lauft zum Fluss!", wies Marvin sie an. "Versteckt euch in einem Fass."
Die Fässer standen praktischerweise direkt neben dem sanft fließenden Strom. Es war fast ein bisschen zu einfach, aber Marvin hatte gerade anderes zu tun, als sich zu beschweren. Er wusste nicht, wie lange die Elche fortbleiben würden, und es gab noch mehrere Zellen zu öffnen. Die Bären waren zu zweit oder dritt eingesperrt worden, überall in dem nach oben offenen Anwesen verstreut. Und der Schlüsselbund hatte sooo viele Schlüssel!
Er flitzte los, einer Duftspur nach, die er als die von Zmerk, Zwerk und Zwarb erkannte. Als er den Gang fast erreicht hatte, flimmerte die Luft vor ihm plötzlich. Eine Art Grenze oder Brandspur erschien, die erst in assyl'schem Rot, dann in Lyssas Blau schimmerte.
Dann stand Marv vor ihm.
Marvin ächzte auf. "Was machst du denn hier?"
"So Kreaichs sind ja echt praktisch, wenn man unsichtbar sein will", stellte Marv fest, dann sah er seinen Bruder fröhlich hechelnd an. "Die drei da hinten musst du nicht mehr holen. Wir haben bereits Ersatz reingeschummelt."
"Ersatz? Für alle drei?" Es versetzte Marvin einen Stich. Besonders Zmerk mochte er.
"Für Zjerl und Dwerk ebenfalls", ergänzte Marv. "Also für Bombur und Dwalin, wenn man so will. Du musst nur noch Zwarc und Zwarg befreien, und Herbert, Hwirg und Zwirg."
Marvin sortierte die Duftspuren neu und versuchte, einen Überblick über die ganzen Zwerg-Namen zu behalten. "Die beiden Eisbären sind dort drüben, zusammen", erkannte er. "Zwarg und Zwarc sind da hinten, auch zusammen. Perfekt!"
"Ich übernehme die beiden", bot Marv an.
Marvin nickte. Nur ein geübtes Auge würde den Unterschied zwischen ihnen erkennen. Die Bären würden sich nicht wundern, wenn plötzlich ein anderer Grauwolf vor ihnen stand.
Marv klaute sich eine Maulvoll Schlüssel und lief los. Lyssa tarnte ihn rasch, und Assyl tarnte Marvin. Nicht, bevor er noch mal hämisch gelacht hatte.
"Beeilt euch, ihr Lahmpfoten!", rief Lyssa übermütig.
Zwei befreite Bärenpärchen später - zum Glücken hatten beide den richtigen Schlüssel in ihrer Auswahl gehabt (oder es gab mehrere gleiche Schlüssel) - trafen sich Marv und Marvin im Schutz ihrer jeweiligen Kreaichs vor der letzten Zelle.
"Das ist jetzt natürlich ein Problem", stellte Marv fest und schickte Lyssas Tarnschutz mit einem Ohrzucken weg.
Im Käfig, ein ganzes Stück vor ihnen, hockten Herbert Bienenspeer, Dwerk und Zjerl. Sie duckten sich hinter eine Trennwand.
"Dwerk und Zjerl wolltest du ersetzen, richtig?", fragte Marvin. "Assyl, jetzt mach schon ..." Ein wenig Gemecker später wurde er schließlich auch wieder sichtbar.
"Sie sind schon ersetzt. Durch geeignete Kandidaten."
"Du hast nur die Pseudonyme zur Auswahl, ich bezweifele also, dass irgendwer geeignet ist."
"Jedenfalls können wir Dwerk und Zjerl nicht rauslassen."
Marvin seufzte. "Wir können Herbert aber nicht hierlassen. Er fehlt sonst."
"Außer ..." Marv legte die Ohren an. "Außer, ich gehe an seiner Stelle."
"Was? Das steht völlig außer Frage!" Marvin sah ihn entsetzt an. "Du weißt, was mit Thorin passiert!"
"Ich bin nicht blöd."
"Doch, offensichtlich! Du kannst dich nicht in solche Gefahr begeben - du bist das Hauptprofil! Wir hängen da alle mit drin."
Marv sah auf das Moor hinaus. Sehr viel Zeit blieb ihnen nicht. "Wir tauschen mich später zurück. Die anderen bringen Herbert mit nach Belletristica, erklären ihm alles und lassen ihn zurück in die Geschichte. Das ist der einzige Weg. Jetzt können wir es ihm nicht erklären. Wenn plötzlich zwei Marvine vor ihm stehen, kriegen die drei einen Schlaganfall."
"Aber wenn was schiefgeht ..."
"Da muss ich ihm zustimmen", warf Lyssa ein - Assyl kicherte immer noch vor sich hin. "Du hast noch ein paar Geschichten zu schreiben, Marv."
"Das werde ich nicht vergessen. Aber irgendjemand muss das letzte Fass füllen, wenigstens für den Weg bis Seestadt. Es ist ja nicht für lange ... Lyssa wird dem Weltenreisenden alles erklären und ihm fällt schon was ein."
Marvin schüttelte noch immer widerstrebend den Kopf.
"Komm, ich möchte auch nicht Herbert sein!", flehte Marv. "Ich bin vieles, aber kein von Goldgier in den Wahnsinn getriebener, störrischer Zwergenkönig! Der Charakter passt so gar nicht zu mir, außer, der Bärenschatz besteht aus Brotchips. Aber es muss getan werden."
Marvin sah zurück zum Fluss. Dann zum Moor, wo die Elche herumrannten. Erste kehrten zurück.
"Also gut, Marv Bienenspeer - lauf!"
Seite an Seite hetzten die beiden Wölfe los. Lyssa erhob sich kurz vor dem Fluss.
"Wenn du hier stirbst, bringe ich dich um!", drohte sie Marv, glitzerte zum Abschied und huschte davon. Assyl löste seine Tarnung über Marvin ein wenig später.
"Herbert! Na endlich!", begrüßten die Bären Marv. "Dieser Meisterdieb meinte, wir sollen in die Fässer klettern. Sag ihm, dass kein Bär bei Verstand ..."
"In die Fässer mit euch, na los!", stieß Marv keuchend aus. "Tut, was er sagt." Er stockte nur einen winzigen Moment, als die Bären gehorsam in die Tonnen krochen. Das klappte ja wirklich!
Einige der Bären waren allerdings geschrumpft. Eigentlich waren es nur noch sechs Bären. Der Knochenknurpsler, cyber_doggo, Urdoggo, Timofei und Xenon starrten ihr Hauptprofil fragend an, doch es blieb keine Zeit für Erklärungen. Gemeinsam mit Marvin rollte Marv die Fässer ins Flusswasser und sprang dann todesmutig hinterdrein. Als letzter folgte Marvin.
Laute Rufe erklangen von den Elchen, die die Flucht ihrer Fässer bemerkten. Diese trieben rasch in die Strömung und plantschten fröhlich nach Wein duftend davon.
Marv kauerte im Fass, bekam nasse Pfoten und erkannte schwer schluckend, dass Lyssa und Marvin recht gehabt hatten: Das hier war eine ganz, ganz dumme Idee! Leider konnte er momentan nichts an seiner Lage ändern.
Dann erklang auch noch ein Horn. In Erinnerung an den Orküberfall, der an diesem Punkt im Film folgte, hob Marv den Kopf aus dem Fass.
"Menschen!", rief Marvin ihm herüber und deutete zum Sumpf. Dort trafen die Zweibeiner soeben auf die heimgekehrten Elche.
"Sie sind spät dran!", erkannte Marv erleichtert. "Die holen uns nicht mehr ein!"
"Spätestens in Seestadt wird es passieren", erinnerte Marvin ihn. "Sie sind uns auf den Fersen."
Marv sah nach vorne. Der Fluss trug sie auf einen großen See zu, der durch eine auffällige Abwesenheit von Menschenstädten glänzte. Er lag am Fuß eines Berges, und an seinem Ufer erhob sich ein ausgesprochen finsterer Tannenwald.
"Der Finsterwald", murmelte Marv.
Merkwürdigerweise empfand er so etwas wie Heimweh beim Anblick dieses Forstes. Als wäre ein Echo von Herbert Bienenspeers Persönlichkeit bei ihm.