Marvin erwachte mit einem Ohrwurm. Und einem echten Regenwurm im Ohr, der von der Decke gefallen sein musste.
Er zuckte mit den Ohren, schüttelte den Kopf und versuchte, sich zu erinnern, was am gestrigen Tag passiert war. Er hatte einen merkwürdigen Traum gehabt. Eine Melodie war ihm aus der schlafenden Welt gefolgt, obwohl er sich nicht an Worte erinnern konnte.
Blinzelnd sah er sich um und stellte fest, dass er auf dem Moos im Eingang seines Baus lag. Das war an sich nicht ungewöhnlich, da er oft abends noch die Sterne beobachtete, bis er einschlief.
Als er sich umdrehte und den Bau sah, konnte er allerdings nicht mehr länger so tun, als wäre alles nur ein Traum gewesen. Die gemütliche Wolfshöhle war verwüstet, die Gänge aufgebrochen, teilweise eingestürzt.
"Oh nein!", wimmerte Marvin. Er tapste ein paar Schritte in den Bau. "Oh nein!"
Verdattert starrte der Wolf auf die Verwüstung. Es gab keinen Zweifel daran, dass eine Horde Bären hiergewesen war, obwohl jetzt nichts mehr von ihnen zu sehen war. Sie hatten sich breitgemacht, gefeiert und waren dann abgehauen.
"Mein Zuhause!", hauchte der Wolf mit aufgerissenen Augen. Dann verfinsterte sich sein Blick und sein Nackenfell sträubte sich. "Das werdet ihr mir büßen!"
Er durchquerte die Höhle noch einmal, doch es war nichts geblieben. Keine Wurmenden und keine herabhängenden Wurzeln. Selbst der hübsche Baum auf dem Hügel wirkte ganz erschüttert. Doch Marvin stolperte über ein weißes Taschentuch mit den Initialien H.B. zwischen den Wurzeln. Er schnupperte daran und nahm die Spur auf.
Jetzt war es etwas Persönliches! Grimmig folgte der Wolf der Duftmarke in den Wald hinein.
Er holte die Bären noch am Vormittag ein, die gemächlich in einer langen Reihe durch den Wald stapften.
"Da seid ihr!", grollte der Grauwolf, als er die bunte Truppe bemerkte. Er stürmte los und holte auf, während die Bären verwundert anhielten. So ein wütender Grauwolf mit einem Taschentuch im Maul war auch ein merkwürdiger Anblick.
"Ah! Marvin!" Nick, der an zweiter Stelle der Bärenreihe ging, lächelte erleichtert.
"Ihr ... ihr ... ihr ...!" Marvin hatte sich einiges überlegt, das er den Bären sagen wollte, während er ihnen nachgelaufen war. Nur sehr wenige Wesen brachten den Mut auf, einem Bären solche Sachen direkt zu sagen, von einer Horde Bären mal ganz abgesehen. Und wie er so dastand und in die breiten Gesichter hochsah, wurde ihm klar, dass er nicht zu diesen wenigen Wesen zählte.
Herbert stapfte zwischen seinen Leuten hindurch und blieb vor dem Grauwolf stehen, der sich prompt auf die Hinterläufe setzte.
"Mein Taschentuch", brummte der riesige Höhlenbär.
"Ähh ... ja, genau!" Marvin spuckte das Tuch aus. "Das hattet ihr vergessen."
Herbet hob es auf. "Danke. Dann komm." Er drehte sich um und stapfte los.
"Ich wollte nicht ...", begann Marvin. Er drehte sich um und wollte zurücklaufen. Dabei stieß seine Nase beinahe gegen die eines Braunbären. "Ähh, du warst ... Zjerg?"
Der Braunbär nickte. Sein Fell war stellenweise bereits weiß. "Willkommen in der Gemeinschaft, Junge." Er klopfte dem Grauwolf gutmütig auf die Schulter und marschierte weiter. Marvin wurde in den Schlamm gedrückt und dann von den nachdrückenden Bären einfach mitgespült. Schließlich setzte sich Nick an seine Seite.
"Ich wusste, dass du kommen würdest. Du hast ein gutes Herz, Marvin. Du würdest die armen Bären niemals im Stich lassen. Genau der Grund, warum Mobu und ich dich damals für die Rolle von Captain Marv(el) gewählt haben. Du als einziger konntest diese große Macht tragen und als leuchtendes Beispiel der Tugend herhalten ..."
"Ich ... jaaah, genau." Dagegen konnte Marvin jetzt nichts sagen, ohne das Gesicht zu verlieren. Er schluckte und nahm sich im Geheimen vor, seine Rache zu verschieben. Er würde die Gemeinschaft der Bären einfach von Innen heraus zersetzen und dadurch Rache für seinen geliebten Rückzugsort nehmen!
So folgte der Grauwolf den Bären eher unfreiwillig in die Wälder. Während die gemächlichen Riesen große Gräben und Klippen überwanden, musste Marvin umständlich klettern oder sogar von einem Bären im Nacken gepackt und getragen werden. Als dann auch noch strömender Regen einsetzte, sank seine Laune weiter. Er fühlte sich nass, kalt, elend und gedemütigt. Und er war immer noch zornig.
Am Abend hielten sie an einer kleinen Lichtung, wo die Bären sich einfach zusammendrängten und Marvin ein wenig abseits im Regen zitterte. Oh, wie er sich in seine gemütliche, kleine Höhle zurücksehnte! In sein Erdloch, wo man trocken und warm liegen konnte, wo die rauschenden Zweige der Eiche das Wetter abhielten. Wo man friedlich die Sterne beobachten und von Abenteuern träumen konnte - statt sie erleben zu müssen.
Wo kamen diese Abenteuer überhaupt her? Er war sich ganz sicher, dass er keine Bären und Finsterwälder in seinen Rückzugsort geschrieben hatte!
Plötzlich hörte er ein merkwürdiges Geräusch und riss den Kopf hoch. "Was war das?"
"Du hörst sie auch, nicht wahr?", fragte einer der beiden Eisbären. Zwirg, wenn Marvin sich nicht täuschte. Er konnte die Brüder Hwirg und Zwirg nicht unterscheiden. Aber es war egal - der andere Bruder hatte den Kopf ebenfalls gehoben.
"W-was ist das?", fragte Marvin die beiden.
"Menschen", flüsterte Hwirg mit todernster Stimme. "Sie jagen in den Wäldern. Sie greifen im Morgengrauen an, lautlos und schnell. Es gibt keine Schreie. Niemand überlebt."
Bibbernd sträubte sich das Grauwolffell. "Menschen!" Ein Schauer überlief ihn. Was hatten denn Menschen in diesen friedlichen Wäldern zu suchen? Die hatte er ganz sicher nicht hier reingeschrieben!
Herbert hatte den Kopf gehoben und sah zu ihnen herüber. Als die Eisbären über die offenkundige Angst des Grauwolfs lachten, stand der riesige Höhlenbär mit einem Ruck auf.
"Haltet ihr das für lustig, Neffen? Haltet ihr einen Menschenangriff für einen Scherz?"
Sofort zogen die Eisbären ihre Köpfe ein. "Wir haben uns nichts dabei gedacht ..."
"Nein", schnaufte Herbert und stapfte zornig an ihnen vorbei.
Zwirg, Hwirg und Marvin sahen ihm nach, bis Zjerg zu ihnen kam, der ergraute Braunbär.
"Nehmt es ihm nicht übel. Herberts Vater und Großvater sind von Menschen erschlagen worden. Ihn haben sie auch überfallen, im Frühling, als er nach dem Winterschlaf geschwächt war. Sie haben ihn beinahe erwischt mit ihren Speeren, doch er ist auf einen Baum geklettert und hat ein Bienennest nach ihnen geworfen.
"Ich habe mich schon die ganze Zeit gewundert, warum er dieses alte Bienennest mit sich herumschleppt", warf Marvin ein.
"An diesem Tag hat er die Menschen zurückgeschlagen", sagte Zjerg bewundernd. "Und er wurde zu unserem Anführer. Niemand sonst kann sich diesen grausigen Bestien stellen."
"Grausige Bestien, wie?"
Die drei Bären und der Wolf wirbelten herum. Sie hatten nicht gemerkt, dass Nick Calm hinter ihnen stand. Er sah sie verletzt an. "Das sind wir also für euch? Nur Bestien?"
Und damit drehte sich der Einäugige um und stürmte in den Wald.
"Nick!", rief Marvin ihm nach. "Nick, warte ..."
Doch der Mensch war schon nicht mehr zu sehen. Der Grauwolf schluckte und sah zu den wildfremden Bären, die den Austausch stumm beobachtet hatten.
Die einzige Person, die er kannte, hatte die Party verlassen - der schlimmste Albtraum eines Introvertierten!
Was unser bemitleidenswerter Held nicht wusste, war, dass alles sehr bald noch viel schlimmer kommen sollte ...