"Wo haben die den Käse gefunden?", wimmerte Marvin, während die fröhliche Bärengemeinschaft seinen friedlichen Bau weiter verwüstete. "Wo kommen die Würstchen her?"
"Sie sind doch eine ganz muntere Versammlung", stellte Nick Calm fest. Eine Augenklappe über dem linken Auge saß er neben Marvin und lächelte.
"Können die nicht woanders eine muntere Versammlung sein?"
"Was hast du nur gegen Bären?"
"Ich habe gar nichts gegen Bären!", stellte Marvin knurrend richtig. "Aber ich möchte meinen Besuch gerne kennen, bevor er kommt, und ich will den selbst einladen! Außerdem nennen die mich ständig einen Dieb."
"Meisterdieb", verbesserte Nick.
"Ja, wie auch immer ..." Dann setzte sich der Wolf mit einem Ruck auf. "Moment mal! Hast du etwa was damit zu tun?"
Nick grinste breit. "Natürlich."
"Ich werde dich ..." Marvin konnte die Drohung nicht aussprechen, denn der Einäugige redete sofort weiter.
"Sie brauchen unsere Hilfe, um ihre Heimat zurückzufordern. Alleine haben sie keine Chance, aber mit dir an ihrer Seite ..."
"Was, bitte, soll ich denn groß ausrichten?" Marvin zog den Kopf ein, als ein Knochen über sie hinwegflog.
"Du hast doch Erfahrung mit ..."
In diesem Moment wurde Nick jedoch vom Plot unterbrochen, der in diesem Moment draußen "Hallo?" rief. Die Gesellschaft der Bären verstummte auf einen Schlag. Alle Blicke richteten sich auf den Eingang zum Bau.
"Er ist hier", flüsterte jemand. Niemand rührte sich. Sie wagten kaum, zu atmen. Und alle sahen Marvin an.
Der Grauwolf legte die Ohren an und winselte. Da die Bären auffordernd nickten und Nick ihn etwas schubste, tapste er, den Bauch dicht am Boden, los.
Mit gesträubtem Fell steckte Marvin die Nase aus dem Bau. Vor ihm stand ein riesiger, brauner Bär, größer als ein Bison. Er war hoch wie ein Mensch, und doppelt so lang wie ein normaler Bär. Marvin setzte sich unsanft, als seine Hinterbeine nachgaben, und einen Moment überlegte er, wieder in Ohnmacht zu fallen. Das war ein Höhlenbär! Die waren doch schon ausgestorben!
"Hattest du nicht gesagt, dieser Ort wäre leicht zu finden?", brummte der gewaltige Bär Nick an, der lautlos hinter Marvin hergekommen war.
"Kann mich nicht erinnern." Der Einäugige runzelte die nicht von der Augenklappe verdeckte Braue.
Nach und nach versammelten sich die anderen Bären draußen, denn es war ausgeschlossen, dass sich ein erwachsener Höhlenbär in Marvins kleinen, gemütlichen Bau zwängte.
"Darf ich dir den Anführer unserer Expedition vorstellen?", sagte Nick. "Herbert Bienenspeer."
"Ehrlich?", murmelte Marvin benommen. "Der Herr der Bären heißt 'Herbert'?"
"Und du bist dann wohl Nicks berühmter Freund, Marvin", knurrte der Bär pikiert zurück. ('Marvin' bedeutet nämlich 'berühmter Freund'.) "Sag mir, Wolf ... kannst du kämpfen?"
"Ich kämpfe nicht mehr", gab Marvin mit gebleckten Zähnen zurück.
"Das habe ich mir gedacht", knurrte der große Bär. Er sah Nick an. "Der da ist nicht aus Heldenholz."
"Ich bestehe ja auch aus Fleisch, Blut, Knochen und solchem Zeug. Fell. Und zu mindestens 3% aus Qualitätsschlamm. Ich habe nie behauptet, ein Held zu sein!"
Die Bären nickten bestätigend. Marvin entspannte sich. Die Gruppe würde ihn auf keinen Fall mitnehmen wollen. Und er konnte wieder seine Ruhe haben. Das schien eine Win-Win-Situation zu sein.
"Wenn ich sage, dass er ein Held ist", donnerte Nick, "dann ist er ein Held! Ihr habt mich gebeten, das vierzehnte Mitglied für unsere Reise zu finden, und ich habe mich für Herrn Grauwolf hier entschieden." Alle starrten ihn entgeistert an. Marvin am entgeistersten. "Ihr dürft einen Grauwolf nicht unterschätzen. Er ist ein geschickter Jäger, ausgesprochen intelligent und kreativ, und ich denke, es steckt mehr Schlagfertigkeit in ihm, als er selbst weiß!"
Die Bären musterten den vernarbten Wolf zweifelnd. Marvin schüttelte den Kopf. "Nein, ich bin ganz und gar nicht ... na gut, etwas kreativ vielleicht, aber ansonsten ..."
"Außerdem", fuhr Nick fort, "hat er bereits gegen Drachen gekämpft."
Nun wurden die Augen aller groß. Marvins Augen am größten.
"D-Drachen?"
"Oh ja. Ein großer Feuerdrache hat die Heimat dieser tapferen Bären verbrannt, und dorthin wollen sie jetzt zurück", erklärte Nick.
"Drache", hauchte Marvin.
"Stell dir einen fliegenden Schmelzofen vor!", rief der Brillenbär Zmerk von hinten. Er holte aus, um noch weiter zu beschreiben.
"Nö", meinte Marvin und kippte zum zweiten Mal um.
"Ich habe noch gar nicht angefangen", murmelte Zmerk enttäuscht.
"Sehr hilfreich!", zischte Nick. "Kommt, wir ... schieben ihn einfach in die Ecke da." Mit dem Fuß wälzte er den grauen Wolf zur Seite, dann stellte er sich vor Herbert. "Ich habe dir nämlich das hier zu geben." Damit reichte er dem Bären einen vergleichsweise großen Schlüssel. Herbert setzte sich und nahm den eisernen Schlüssel entgegen, der in seinen Pranken winzig wirkte.
"Wo hast du den her?"
"Euer Vater gab ihn mir."
"Mein Vater?" Der Bär hob eine dunkle Augenbraue.
"Na gut ... ich habe ihn aus dem MacGuffin-Laden um die Ecke. Gab's umsonst zum Einsamen Berg dazu."
Herbert schnaubte. "Behalt ihn. Was sollen wir mit einem ollen Berg? Wir wollen in den Finsterwald zurück."
"Der Drache da ist aber größer", murmelte Nick. "Das war so nicht abgemacht."
"Hast du Angst um deinen Grauwolf?"
"Ich, ähh ..." Nick sah zu Marvin herüber. "Nein, nein."
Herbert schnaufte. "Ich werde nicht den Babysitter für ihn spielen, dass das klar ist. Wenn er tatsächlich mitkommt und das Ganze nicht packt, wirst du die Verantwortung dafür haben."
Nick schluckte und nickte. Wie er das Marv erklären sollte, dem Hauptprofil? Aber ihm würde schon was einfallen ...
Herbert, zufrieden mit der Antwort, trat zu seinen Bären. Nacheinander standen sie auf und brummten, was sich plötzlich zu einer Melodie verdichtete, gerade, als Marvin wieder die Augen aufschlug. Zitternd in der Kälte der Nacht betrachtete er die dreizehn Bären, die sich um ein kleines Lagerfeuer versammelt hatten, dessen Funken hinauf zu den Sternen aufstiegen.
Dann begann Herbert, mit dröhnendem Bass zu singen:
Wo Schatten lauern, tief und kalt,
kehren wir heim zum Finsterwald.
Mag Feuer glüh'n und Tod uns droh'n,
ein Schatz aus Urzeit unser Lohn.
Wo einst der Schmiede Lied erklang,
der Hammer auf dem Amboss sang.
Wo Sternenlicht in Gold gebannt,
zieht es uns heim ins Bärenland.
Des Drachen Zorn das Land versengt,
die Melodie uns Trost noch schenkt.
Zu lang verlor'n, und zu weit fort
ist Thron und Heimat, Bärenhort.
So und noch weiter ging die Weise. Marvin hob den Blick zu den Sternen und folgte den vertrauen Linien und Bildern. Hoch am Himmel strahlte der Eridanus, der rechte Weg, zwischen den Urwölfen der Vergangenheit und den Seelen der zu früh Gegangenen. Marvin suchte, bis er Jupiter erblickte, im Kranz seiner Monde, seines Rudels, für Wolfsaugen gut zu sehen. Ihm war, als spüre er die Flammen wieder, höre das Brüllen der Drachen.
"Was denkst du?", murmelte der Graue leise. "Was wäre das Richtige?"
Über diesem wehmütigen Gedanken schlief er schließlich ein.