"Also?", sagte Herbert wenig später, als seine Gruppe einen gewissen Abstand zum Berg eingenommen hatte. Hingebungsvoll hechelnd versuchte Marvin, noch etwas Zeit zu schinden.
"Ich habe mich im Berg verirrt", erklärte er dann. "Nachdem wir in die Falle gegangen sind, bin ich von den Klippen gefallen, aber zum Glück weich gelandet. Da unten war irgendeine merkwürdige Kreatur ..." In Gedanken sandte er Nivram eine Entschuldigung, doch er hatte das Gefühl, sich hier möglichst nah an das Skript halten zu müssen, und 'da war ein Doppelgänger meines Klons' würde die Bären nur verwirren. "Ich konnte dann den Ausgang finden, als ich euch rufen hörte, und dann war ich auch schon draußen."
"Dann wolltest du nicht abhauen?" Herbert hob eine bärige Augenbraue. Er hatte tatsächlich eine dunklere Zeichnung über den Augenwulsten, die ihn auch ständig grimmig aussehen ließ.
"Ähm. Also ..." Marvin ließ den Blick schweifen.
Und stutzte. Da stand ein Mensch mitten zwischen den Bären und guckte unbeteiligt.
"Wandi? Was machst du hier?!"
Der Weltenwanderer zuckte zusammen. Die Bären starrten ihn an.
"Wie hast du Zjerg eben genannt?", erkundigte sich Herbert.
"Zjerg? Aber das ist ... Ähh, ich habe nur gehustet", brachte der verwirrte Grauwolf hervor.
Herbert runzelte die Brauen noch immer, doch in diesem Moment wurde er abgelenkt, als nämlich laute, schrille Rufe auf den Händen über ihnen erklangen.
"Die Menschen sind uns gefolgt!", rief Hwirg, einer der beiden Eisbären.
"Ich dachte, die können nicht ins Sonnenlicht", wimmerte Marv.
"Wo hast du das denn her?", fragte Hwirg verwirrt.
"Los, weiter!", donnerte Herbert. "Lauft!"
Die Bären stürmten los. Der Weltenwanderer folgte ihnen und Marvin setzte sich an seine Seite, Assyl noch immer über seiner Schulter. Das Kreaich folgte ihm stumm. Es redete aber ohnehin meist nur mit Nivram.
"Was machst du hier? Oder werde ich verrückt?", fragte Marvin.
"Mit dir ist alles in Ordnung", erwiderte der Weltenwanderer. "Wir sind hier, um dich zu retten."
"Und wieso sehen die Bären dich dann nicht?"
"Wir haben einen kleinen Eingriff auf Logikebene vorgenommen", erklärte der Weltenwanderer. "Ist ein bisschen so, wie wenn man den Namen eines Charakters mitten in der Geschichte ändert, also, während man sie schreibt. Die Figuren und die Leser kriegen davon nichts mit, für sie war der Name schon immer so."
"Also warst du jetzt ... für die Bären ... schon immer ein Mensch?", japste der Wolf zwischen weiten Sprüngen.
"Ganz recht. Nur Figuren von außerhalb kann man nicht täuschen. Also dich und Assyl. Und Nick eventuell auch nicht."
"Wo ist er überhaupt? Hätte er nicht im Berg zu euch stoßen müssen?"
"Eigentlich schon, aber er war nicht da. Vielleicht verspätet er sich. Ich hoffe mal, dass es ihm gut geht."
"Das hoffe ich auch. Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen! Also, nicht im Sinne von gemeinsamem Kochen."
Dann verlegten sich die beiden aufs Rennen. Die Menschen holten bald auf. Die Bären dagegen sahen sich in eine Falle gedrängt. Vor ihnen endete der Weg abrupt an einer spitzzulaufenden Klippe, die ein bisschen an den Bug eines Schiffes erinnerte. Herbert wollte zurücklaufen, doch inzwischen hatten sich die Menschen in einer breiten Linie über den Hang ergossen. Sie ritten merkwürdige, brüllende Pferde aus Stahl mit Rädern statt Beinen und bewegten sich schnell auf sie zu.
Der massige Höhlenbär sah sich um und brüllte dann: "Auf die Bäume!"
Hopps, hopps, hopps waren die Bären im Geäst. Marvin starrte ratlos auf den Stamm, als der Weltenwanderer ihm winkte. Mit angelegten Ohren lief Marvin zu ihm, sprang auf einen niedrigen Zweig und ließ sich von dem Menschen nach oben ziehen. Dann kauerte er mühsam balancierend auf einem Ast und fühlte sich am falschen Platz. Unten hielten die Menschen ihre brüllenden Pferde und stiegen ab. Der Lärm der sehr langen, flachen Kreaturen verstummte, als sie anhielten. Sie bestanden ... aus zwei Rädern, einem Sitz und einer Menge merkwürdigem Kram dazwischen.
Die Bären spähten nervös in die Tiefe. Die Menschen starrten herauf. Dann begannen sie, Reisig am Fuß der Bäume aufzuschichten.
"Das gefällt mir nicht", murmelte der Weltenwanderer und fummelte mehrere Blätter und merkwürdige Amulette hervor. Schließlich zückte er ein Handy.
"Was machst du da?", fragte Marvin.
"Da unser Gandalf-Ersatz durch Abwesenheit glänzt, muss wohl jemand anderes die Adler rufen", erklärte der maskierte Mensch und wählte eine Nummer. "Kannst du die Menschen so lange hinhalten, bis sie da sind?"
"Ich?!"
"Dir fällt sicher etwas ein." Der Weltenwanderer klemmte sich das Handy unter das Ohr. "Ja. Hallo? Ich möchte gerne Ihr schnellstes Taxi buchen ..."
Marvin sah nach unten. Die Menschen waren dabei, Feuer zu entzünden. Noch brannte zwar nichts, aber die Holzhaufen waren bereit und Feuerzeuge wurden gebracht.
"Assyl, kannst du nicht irgendwas unternehmen?", flehte Marvin das Kreaich an.
Das rote Irrlicht kam flackernd zu sich. "Unternehmen? Wogegen?"
"Die wollen uns verbrennen."
"Feuer?", fragte Assyl mit viel zu viel Begeisterung. Er sprang vom Baum und stürzte sich in das Holz. Einen Moment geschah nichts, dann schlugen mit einem mal rotglühende Flammen aus dem Reisig.
Die Menschen wichen mit erschrockenen Aufschreien zurück. Dabei war das Feuer nicht echt. Marvin spürte weder Hitze noch roch er Rauch. Es war eine Illusion, aber eine sehr überzeugende.
Ebenso überzeugend war der riesige Höhlenbär, der plötzlich mit lautem Brüllen über die falschen Flammen setzte und sich auf die Menschen stürzte. Erst, als seine Pranken mehrere Angreifer zur Seite fegten, begriff Marvin, dass es keine Illusion war.
"Herbert! Was machst du denn?", rief der Grauwolf, als auch schon ein Schuss ertönte.
Herbert grunzte. Verdutzt blickte er auf den kleinen, gefiederten Pfeil, der in seiner Schulter steckte. Er machte zwei Schritte, dann kippte er um.
Die Bären heulten gemeinschaftlich auf, als ihr Anführer zu Boden ging.
Marvin wusste gar nicht, wie ihm geschah. Im einen Moment saß er noch im Baum, auf einem viel zu dünnen Ast, und sah zu, wie ein Mensch mit einem Gewehr auf Herbert anlegte. Im nächsten Moment rannte er mitten durch die falschen Flammen, sprang den Schützen an und riss ihm die Waffe aus der Hand. Knurrend und von der Panik zu neuer Geschwindigkeit getrieben baute sich der Grauwolf vor dem Bären zu, dessen Lid noch ein letztes, bewusstes Funkeln entließ, ehe es sich schloss.
"Das war eine dumme Idee", murmelte Marvin, als sich die Menschen in einem Halbkreis auf ihn zubewegten. "Eine ganz, ganz dumme Idee ..."
In diesem Moment erklang ein lauter Schrei und die Adler kamen.