Sie kam zu spät.
Der Plan, sich unter der Decke zu verkriechen und den Tränen freien Lauf zu lassen, scheiterte. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer begegnete sie ihm, vollkommen unvorbereitet: Löwe. Er saß auf dem Sofa, betrachtete sich im Handspiegel und zupfte das rotbraune Haar zurecht. Obwohl er nicht zu ihr sah, ahnte sie, dass er sie bemerkte.
»Ich höre.«
Sie knabberte an der Lippe herum und fummelte an den Faden, der sich halb von ihrem Oberteil löste. Die meisten Sternzeichen waren anwesend. Sie fühlte sich wie auf dem Präsentierteller. Aus allen Ecken wurde sie beobachtet. Insbesondere Skorpion schien den Moment zu genießen, denn er machte sich nicht die Mühe, das gehässige Schmunzeln versteckt zu halten.
Natürlich war Löwe bestens über ihre Fehler informiert. Von irgendwoher bekam er immer seine Auskunft. Wer verriet sie dieses Mal? Ari war mit ihr angekommen. Das Weiten seiner Augen verriet ihr, dass er überrascht war. Von ihm hatte Löwe nichts erfahren.
Wer aber dann?
»Ich habe es nicht pünktlich zum Krankenhaus geschafft«, verkündete sie.
Löwe legte den Spiegel zur Seite und wandte sich ihr zu. »Wie viele sind gestorben?« Die Stimme war tief. Bedrohlich und kehlig kam sie aus ihm heraus.
»Ei-einige.«
Sie schluckte den Kloß im Hals herunter. Die Erinnerung an den Gesichtern der Mütter, die ihr totes Baby auf dem Arm hielten und sich an ihnen schmiegten, in der Hoffnung, sie würden die Augen öffnen, wollte Cana nicht aus dem Kopf gehen. Bevor sie selbst eine Träne vergießen konnte, zog Ari sie in Richtung Ausgang und nahm sie direkt mit nach Hause.
Währenddessen ließ sie eine Beschimpfung nach der anderen über sich ergehen. Sobald Cana etwas äußerte, zündete sie eine weitere Bombe in ihn an. Anders als Löwe hielt er sein Zorn nicht zurück, aber wenigstens konnte sie seine Gefühle besser zuordnen. In diesem Moment wusste sie nicht, ob Löwe enttäuscht oder wütend war.
Jungfrau hielt ein Tablet in der Hand und tippte mit dem Stift darauf herum. Die Brille rutschte ihm von der Nase herunter. Schnell richtete er sie. »Siebenunddreißig, um genau zu sein.« Ein freundliches Lächeln blitzte auf, als hätte er einem bei etwas geholfen.
Löwe verengte die braunen Augen, nachdem er die Anzahl der Opfer gehört hatte.
Cana unterdrückte ein Seufzen. Jungfrau und seine Genauigkeit kamen ihr häufiger in die Quere.
Das war total unnötig, Jungfrau! Ehrlich jetzt.
»Außerdem«, begann er, »Krebs, heute kannst du dich leider nicht ausruhen. Meiner Berechnung nach werden vierzehn weitere Babys geboren. In einer Stunde und achtundvierzig Minuten musst du wieder aufbrechen. Oder warte, dein Gehtempo im Sinn habend, solltest du dreizehn Minuten dazu rechnen. Sicher ist sicher.«
Keiner der anwesenden Sternzeichen bewegte sich, um Cana in die Arme zu nehmen oder sie tröstend an der Schulter zu tätscheln. Ihr Tag war hart. Sie sah zu viel. Der Wunsch, einfach ins Bett zu gehen, verfestigte sich in ihrem Herzen.
Es vergingen Minuten, in denen nichts Besonderes geschah. Außer das Umblättern einer Zeitschrift, die sich Steinbock ansah, war nichts zuhören. Wie immer wirkte er teilnahmslos.
»Wo – ähm, woher weißt du eigentlich darüber Bescheid?«, wollte sie von Löwe wissen. Obwohl derjenige das Verpetzen niemals preisgeben würde, versuchte sie ihr Glück. Die Neugierde packte sie. »Ich, äh, meine, na ja. Du … hehe. Du warst ja nicht vor Ort, Liony.« Sie kratzte sich im Nacken und bemühte sich, zu lachen. Obwohl sie zuhause waren und sie sich beim wahren Namen ansprechen durften, brachte sie seinen nicht über die Lippen. Nicht bei dem scharfen, bohrenden Blick, dem sie bereits zu lange ausgesetzt war.
Löwe reagierte nicht. Fragen, die nach seiner Meinung, unnötig waren, beantwortete er nie.
»Ich«, kam es hinter ihr. Sie drehte sich um und erblickte Schütze. Das graubraune Haar stand in allen Richtung ab. Er wirkte, als wäre er seit Tagen nicht zuhause gewesen. Mit dem Daumen zeigte er auf sich. »Ich war es. Immerhin sollte ich der Aszendent der Neugeborenen werden, aber du warst ja nicht da, Krebs. Also brachte meine Anwesenheit nichts. Ihr habt mich nicht gesehen, was? Seid ehrlich. Na? Na? Na?« Ehe Cana etwas erwidern konnte, winkte er ab. »Wie auch immer, ich muss los. Keine Zeit.« Niemand schaffte es, ihn zu fragen, wohin er gehen musste. Dauernd war er unterwegs. Unter der Woche sah sie ihn möglicherweise, wenn sie Glück hatte, ein- oder zweimal.
Wo ist Fische nur? Ich brauche dich! Alle sind gemein zu mir.
»Es ist deine Saison, Krebs. Deine. Und du vermasselst es. Wie stehst du nun im Vergleich zu den ausländischen Krebsen, hm?«
Cana drückte den Rücken durch, nachdem Löwe zu reden begonnen hatte.
»Wenn du nicht in der Nähe bist, sterben sie alle. Bist du deiner Verantwortung immer noch nicht bewusst?«
Sie war mit ihren sechzehn Jahren kein kleines Kind mehr, aber warum behandelten beinahe alle sie so? Dass ihre Familie ausschließlich aus Männern bestand, machte es ihr nicht einfach.
Sie wollte nur das 13. Sternzeichen finden und zur Familie führen. Sie war nicht faul oder wollte sich ihren Pflichten unterziehen. Es war eine halbe Stunde, die sie abseits gewesen war. Woher sollte sie wissen, dass in der kurzen Zeitspanne etwas passieren konnte?
»Hast du mir zugehört?«
Ein Nicken ihrerseits.
»Sobald deine Saison vorbei ist, begehst du dich für drei Wochen in deinem Zimmer«, teilte er ihr mit. »Damit du genug Zeit zum Nachdenken hast.«
Sie schluckte. Es wurde ihr klar, was das zu bedeuten hatte: kaum Essen, nur das Nötigste. Die Bestrafung sollte schließlich kein Spaziergang werden.
»Ja, okay«, murmelte sie. Was blieb ihr anderes übrig? Skorpion grinste mittlerweile breit. Genoss er die Situation?
»Du hast uns alle beschämt. Wenigstens das sollte dir bewusst werden. Jetzt darfst du gehen.«