Sie schlitterten den steilen Abhang herunter. Die Geschwindigkeit machte Cana zu schaffen, dass sie fast aus dem Gleichgewicht kam. Manchmal drehte sie den Kopf beim Rennen um. Niemand war zu sehen. Verlor Skorpion sie aus den Augen oder lauerte er irgendwo auf sie, um im richtigen Augenblick zuzuschlagen?
Der Sauerstoff brannte in ihrer Lunge. Jeder Atemzug tat weh. Dieser Schmerz ging tief. Was jetzt, wohin? Ihre Sinne waren aufs Äußerste geschärft, allerdings schaltete sich das klare Denken ab.
Pisan bohrte ein Loch in die Erde. Rasch sprang er mit Cana hinein. Über sich verschloss er die Öffnung mit einer Ladung Schnee. Sie waren in einer selbstgemachten engen Höhle.
Sie hechelten.
»Geschafft.«
»Wollte er … wollte er mich –«
»Keine Angst. Ich beschütze dich, Cana.«
Fische sah ihr direkt in die Augen. Sein Kehlkopf ging auf und ab.
»Hörst du?«
Er strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht.
»Ich habe aber trotzdem noch Angst, Pisan.«
»Ich ja auch, aber hier sind wir erst einmal sicher. Wir brauchen Zeit zum Nachdenken.«
Er presste sie in die Arme. Seine Oberarme wuchsen auf das Doppelte heran.
Sein Herz schlug schnell, so wir ihr eigenes. So kreuz und quer wie sie gelaufen waren, hoffte sie inständig, dass Pixo sie nicht in das tiefe Loch springen sah. Wenn es so wäre, hätte er sie nicht jetzt attackiert? Schließlich war ihre Bewegungsfreiheit eingeschränkt.
Sie kniff die Augen zusammen. In seinen Armen fühlte sie sich allmählich sicherer. Ihr Atem verlangsamte sich nach und nach. Denken war ihr aufs Neue möglich.
Was jetzt? Wir können nicht ewig hier bleiben …
Wie aus dem Nichts blitzten Bilder in ihrem Kopf auf. Ein Ziehen machte sich in ihrem Schädel bemerkbar, als würde jemand mit Gewalt in ihrem Verstand eindringen und gewisse Puzzleteile zusammenfügen.
Skorpions Gesicht entgleiste. Tränen rannen an seinen Wangen entlang. Sein Mund war zu einem Schrei aufgerissen, aber kein Laut drang aus ihm.
Was sind das für Bilder? Pixos Vergangenheit?
»Ich habe jede Minute auf deine Geburt gewartet.«
Hm? Die Stimme von Pixo?
Ein weiteres Bild tauchte auf. Das Gesicht ihres Widersachers erschien. Er knirschte mit den Zähnen.
»Du wirst dafür büßen. Büßen. Krebs!«
Erlebe ich seine Vergangenheit, weil wir beide Wasserzeichen sind? Sind wir anders miteinander verknüpft als die anderen Gattungen? Oder … Schlangenträger, bist du das? Pflanzt du diese Gedanken in meinem Kopf ein? Aufhören!
»Pixo«, rief Waage in ihren Erinnerungsfetzen. »Jungfrau ist geboren. Komm.«
Auf einer Wiege lag ein kleines Baby. Sein Körper zeigte Jungfraus Symbol auf. Überall leuchtete es wie ein Reklameschild auf. An und aus.
Vor ihm ging Pixo auf die Knie. Er brach in sich zusammen.
Cana atmete tief ein. Sie löste sich von Fische. Auch er holte Luft. Die geistige Reise entzog ihr ein Teil ihrer Kraft.
»Ha-hast du das Gleiche gesehen?«, erkundigte sie sich bei ihrem Seelenverwandten.
Er krallte sich in seinem Haar fest. Und nickte.
Was soll das, Schlangenträger? Wo bist –
»Dir wird nichts passieren«, versprach Fische.
»Er ist älter und stärker als wir …«
Er fasste sie an den Schultern an. »Hey! Wir schaffen das. Auch er hat nicht ewige Energie.«
»Was ist dein Plan? Ich meine, sobald er uns gefunden hat, ist es –«
»Durchhalten«, fiel er ihr ins Wort, »bis die anderen Sternzeichen auftauchen. Außerdem …« Er ließ sie los, ging einen Schritt zurück und kramte etwas aus seiner Hosentasche heraus. Er hielt Seife in die Höhe. »Wir müssen nicht stärker sein, nur klüger.«
Sie schmunzelte. Das kindliche Leuchten in seinen Augen war noch vorhanden, obwohl die Erkenntnis über Canas Tod ihn schneller altern ließ. »Trägst du immer Seife mit dir herum? Was hast du denn damit vor? Sie ihm an den Kopf knallen?«
»Weißt du, Cana, wir Wasserzeichen sind doch die Einzigen, die zwei Elemente von Anfang an beherrschen. Du verwendest viel zu oft Eiskräfte, ist mir aufgefallen. Aber Wasser ist mächtiger und vielseitig –«
Ein Schneeklumpen fiel ihnen direkt auf dem Kopf. Während sie es beim Zucken beließ, gab Fische ein Laut von sich und verzog das Gesicht zu einer geschockten Fratze. Er tänzelte, als der Schnee unter seinem Oberteil rutschte. Sobald er sich verflüssigte, saugte seine Haut das Wasser auf.
Sie legte den Kopf in den Nacken. Noch weitere Schneeflocken lösten sich und rieselten herab. Es schien, als würde jemand in der Erde graben, sodass sich etwas von der Schneedecke löste. Auf einmal war das Gesicht einer Frau zu sehen, die breit lächelte. Die Augen strahlten.
»Ah! Gefunden«, rief sie.
»Was?«
»Ich wusste es. Ich wusste es, dass es euch Sternzeichen in Wirklichkeit gibt. Ich wünschte, Opa würde noch leben, um das zu sehen.«
Oh nein! Sie ist ein Mensch. Was macht sie hier?
»Bitte, laufe w –«
»Oh Gott, ihr seid wunderschön.«
»Du musst verschwinden«, legte Fische nach.
Das Symbol vom Krebs erschien auf der Stirn der Menschenfrau. Die Energie ihrer letzten Vorgängerin floss in ihr umher. Kein Zweifel. Das Alter musste passen. Durch sie konnte dieser Mensch leben. Cana musste schlucken.
»Niemand wollte Opa glauben, aber er hatte schon immer recht. Es gibt euch wirklich.« Ein Blitzlicht erschien. Sie fotografierte sie von ihrem Handy. Mehrmals hintereinander, als wäre sie in einem Museum.
»Warte, das-das –«
»Na kommt doch hoch«, meinte die Frau und reichte ihnen einen Seil, um hochzuklettern. Sie lächelte. »Ich tue euch nichts, Ehrenwort. Können wir bitte Freunde werd –«
Ein Eisspeer schoss in ihre Richtung. Dieser bohrte sich in ihrem Kopf hindurch und trat aus ihrer Stirn heraus. Blut spritzte und mischte sich mit dem Eis. Die Frau kippte mit offenen Augen um. Der Menschenkörper verschwand aus ihrem Blickfeld. Die blaue Energie, die einst in ihr floss, dampfte aus ihr heraus. Das Einzige, was man von ihr noch sah.
Sofort ließ Cana Eis unter sich entstehen. Wie in einem Fahrstuhl schossen sie aus der Grube heraus. In der Luft sah sie, wie Pixo den Speer geworfen hatte. Immer noch befand er sich in der Wurfhaltung. Als ihre Blicke sich kreuzten, grinste er sie teuflisch an.
Ehe sie fielen, klammerte Pisan einen Arm um sie. Sie landeten weich auf dem Schnee.
»Du hättest sie nicht umbringen müssen!«, brüllte Cana. »Du hast ein Leben ausgelöscht. Das machen Sternzeichen nicht.«
»Hätte ich es nicht getan, hätte es der Schlangenträger garantiert getan. Sie hat zu viel gesehen. Kein Mensch darf uns wissend begegnen.«
»Wir hätten einen anderen Weg finden können«, schrie sie ein weiteres Mal. Sie machte einen Schritt auf ihn zu, aber Pisan hielt sie zurück. »Was wäre daran schlimm, wenn sie unsere Existenz kennt? Sie hätte uns bestimmt nicht verrat –«
»Menschen nutzen jeden und alles für ihre Zwecke aus, Lektion eins. Und Lektion Nummer zwei …« Plötzlich überwand er die Distanz in Sekundenschnelle, sodass er unmittelbar vor ihrem Gesicht stand. Ihr Herz setzte einen Schlag aus.
Was …?
Seine Hand bewegte sich auf sie zu. Pisan erschuf Wasser und hielt die Seife davor. Der Schaum schoss in Pixos Augen. Der Versuch wegzurennen, scheiterte. Ranken schossen vor ihnen in die Höhe. Beide rollten sich zur Seite ab.
Jungfrau stand hinter der Rankenmauer und verhinderte, dass sie fliehen konnten.
»Verrätst du uns etwa auch noch?«, rief Fische und ließ Eis an die Ranken entstehen, die aufplatzten und in ihre Einzelteile auf den Boden landeten. Pisans Kiefer mahlte. Seine Hände glühten bläulich.
Jungfrau richtete seine Brille. Eine grünbraune Aura umgab ihn. Er wich ihren Blicken aus, als sei ihm etwas unangenehm.
Die Äste raschelten. Schnee knirschte.
Hm, was?
Plötzlich spürte Cana einen Ring um den Hals, woran sie sich festklammerte, um sie zu entfernen. Es klappte nicht. Aus der Erde schossen Eisketten hervor. Sie schlug eine von ihnen zur Seite. Auch Fische schlug welche zurück, aber musste dafür eine Attacke von Jungfrau einbüßen.
»Pisan!«, kreischte sie, als sie sah, wie der Rankenhieb ihren Seelenverwandten im Gesicht traf und eine Strieme hinterließ.
An dem Ring um ihren Hals verband sich eine weitere Kette. Sie wurde nach hinten gezogen.
»Cana!«
Ihr blieb die Luft weg, sobald sie Widerstand leistete. Mit einem Mal wurde sie auf dem Boden gedrückt. Die Ketten schmolzen. Der Ring, der um ihr Hals war, versank in der Erde. Eine Schicht aus Eis bildete sich an ihren Händen und Füßen. Sie besaß gerade so Platz, den Kopf etwas hochzuheben oder ihn in beiden Seiten zu drehen, bis das Eis sich in ihre Haut drückte.
Sie bemerkte, wie ein äußerer und innerer Kreis sich um sie herum entwickelte. Der Schnee innerhalb des Radius verschwand. Auf dem äußeren Kreis waren farbige Symbole zu erkennen, die klar voneinander abgrenzt waren. So viele Dinge passierten auf einmal, dass sie nicht begriff, was mit ihr geschah.
»Jetzt«, hörte sie Pixo sagen, »da wir alle an diesem Ort versammelt sind, kommen die kompletten Erinnerungen wieder hoch?«
Ein Wurzel schoss blitzartig in Skorpions Richtung und durchbohrte seine Schulter erbarmungslos. Aus der Wunde floss Blut, sobald die Wurzel aus dem Loch trat. Jemand verbrannte die Wurzel an Ort und Stelle. Der Rauch wehte zu ihr.
»Ist das eine Kampfansage, Stier?«
Taun war da. In seinen Armen ruhte die verstorbene Menschenfrau. Immer noch strömte die Energie des Krebses aus ihr heraus, obwohl sie bereits tot war. Steinbock stand hinter ihm.
Cana weitete die Augen. Alle Sternzeichen waren anwesend.