»Warum müssen wir fürs Reden weiter raus gehen?«
Skorpion ging vor ihnen. Die anderen Sternzeichen befanden sich noch auf ihre Plätze und bemerkten nicht, wie die Wasserzeichen nach und nach verschwanden. Fische hielt Canas Hand fest. Seitdem sie mit Pixo unterwegs waren, äußerte er kein einziges Wort.
»Keine Sorge, die anderen kommen später nach.«
»Das beantwortet meine Frage aber nicht, Pixo.«
Nach wie vor schwamm das ungute Gefühl in ihrem Bauch hin und her, sobald der Ältere Interesse an seine Gattung zeigte. In der Regel kümmerte er sich nie um die zwei anderen Wasserzeichen. Jungfrau war das Zentrum seines Interesses, niemand anderes.
Selbst Pisan wirkt angespannt, so wie er guckt … ich bin also nicht alleine mit meinem Gefühl. Oder tun wir ihm doch unrecht? Vielleicht –
»Krebs, Fische, habt ihr euch jemals gefragt, wo wir unsere Energie herholen?«
Beide schauten sich an, hielten eine Weile in der Bewegung inne und beäugten Skorpions Rückenprofil, als hätte er gefragt, ob sie demnächst im Feuer tanzen wollen. Was sollte die Frage auf einmal? Nach Smalltalk war ihm doch nie mit ihnen.
»Na ja, wir essen, schlafen und –«
»Falsch.« Für einen Moment lang zerschnitt eine Härte seine Stimme. Er räusperte sich und die Stimmmelodie wurde weicher. »Nach 16 Jahren in der Saison des Schlangenträgers begann schon seit Urzeiten die Erschöpfung aller. Alle sind ausgebrannt.«
»Erschöpfung aller?«, wunderte Cana sich.
Häh? Was soll das bedeuten?
Der Griff von Fische verstärkte sich. Es war, als übermittelte er ihr anhand des Drucks ein Morsecode. Er biss sich auf die Lippe. Manchmal schaute er hinter sich. Später fuhr er sich durch das Haar.
Verzweifelt suchte sie nach einem Augenkontakt, um nachzufragen. Diese Gelegenheit blieb jedoch aus.
Warum bist du nur so hibbelig? Das macht mich auch unruhig …
Kam es ihr nur so vor oder wurde die Gegend eisiger? Ein Windhauch bestätigte die Kälte. Um ihre Beine herum entstanden kleine Eiskristalle, die sich in kürzester Zeit auflösten, sobald sie zu lange mit der Luft in Berührung waren. Das Mondlicht reflektierte sie in einem hübschen Glanz. Die Eispartikeln strömten aus Pixos Schuhen und Handflächen zu ihnen herüber. Jetzt bildeten sie mit dieser Verbindung einen imaginären Dreieck.
Heute war der 29.11. Die Arbeit von Skorpion endete und die von Schütze begann offiziell. Pixo erwähnte Asklepios' Saison. Warum befand sich dieser exakt zwischen Pixos und Riams Zeit? Ihm war keine eigene unabhängige Saison zugeteilt?
Der Schlangenträger ist anders als wir. Das habe ich ja begriffen, aber –
»Genau«, hörte sie Skorpion sagen. Da sie lediglich sein Rücken sah, fiel es ihr schwerer, herauszufinden, was ihm durch den Kopf ging. »Immer um diese Zeit versammelten sich die dreizehn Sternzeichen. Jedes Mal musste sich einer bereit erklären, seine Lebensenergie auf die anderen zu übertragen.«
»Warte … was?« Cana blinzelte. »Das bedeutet, einer hat sich geopfert? Einer ist freiwillig in den Tod gegangen?«
»Wenn du es so bezeichnen möchtest, tue dir keinen Zwang an.«
»Aber wieso kann man nicht –«
»Wenn sich damals niemand bereit erklärte, musste der Schlangenträger entscheiden, wem er die Lebensenergie absaugt, um sie auf alle anderen zu verteilen. Nur er kann das. Und auch er braucht Energie, denn seine Kraft ist nicht grenzenlos.«
Cana schluckte. Ihre Augen wanderten und konnten keinen festen Punkt für eine längere Dauer fixieren. Nun beschleunigte der Atem sich etwas.
»Würden denn alle sterben, wenn keiner sich opfern will?«
Pixo schwieg eine Weile.
»Warum sagst du nichts?«
»Mir ist«, setzte er an, »zu Ohren gekommen, dass die chinesische Sternzeichen einst anders waren als sie es heute sind. Ihre Energie ging zu Neige. Niemand tat etwas. Alle starben und komplett neue sind geboren. Das könnte auch den europäischen Sternzeichen widerfahren. Dann gibt es uns nicht mehr sondern andere Formen.«
Das … ist ja schrecklich. Wir alle verschwinden also komplett. Das … muss ich doch irgendwie verhindern.
»Es hieß, jedes Mal ging es der Reihe entlang. Eine fairere Entscheidung gab es nicht, bis der Krebs dran war und nicht sterben wollte. Dieser sorgte dafür, dass Jungfrau ein weiteres Mal sich opferte, obwohl es nie sicher ist, dass ein gestorbenes Sternzeichen reinkarniert. Der Krebs riskierte es jedoch, nur um sein Leben zu retten. Ich predige es so oft: nicht der Skorpion ist der Meister der Manipulation, nein. Es war schon immer der Krebs.«
»Hey, das-das ist nicht wahr. Den Krebs, den du meinst, hat das bestimmt nicht für sich getan.«
»Für wen denn sonst?«
»Er muss einen Grund für ihn gegeben haben, das schwöre ich dir als Krebs.«
Pixo hielt an.
So gefesselt, wie sie vom Gespräch war, wurde es ihr spät bewusst, an welchem Ort sie sich befanden. Sie waren in einem Wald. Mitten in der Stadt. Der Lärm der Menschen brach ab, kaum als sie in den Wald schritten. Als hätte jemand die Leitung abgetrennt.
Die Baumkronen waren bedeckt mit Schnee. Auch der Boden wies hohen Schnee auf. Um den gesamten Wald herum wurde ein silbriges Etwas kurzzeitig sichtbar. Diese Blase trennte Stadt und Wald voneinander.
Das Werk des Schlangenträgers?
Oh nein! Dann dürfen wir nicht hier sei –
»Das war der Zeitpunkt«, berichtete Pixo, »wo der langanhaltende Krieg zwischen den Sternzeichen ausbrach. Aufs Neue bekämpften sie sich, bis ein Verlierer ermittelt wurde. Mit der Geburt eines deiner Vorgänger, der sich freiwillig opferte, änderte sich ein weiteres Mal alles. Die Mentalität der Krebse war, Buße für den einen Verräter-Krebs zu tun, indem sie sich wieder und wieder opferten.«
»Deswegen wurden sie nie älter als 16?«
»Genau.«
»Ich verstehe, aber Pixo wir müssen von hier –«
»Warum bist du die ganze Zeit über still, Fische?«
Cana blickte zur Seite. Mittlerweile ließ ihr Seelenverwandter ihre Hand los. Sein Gesicht verhärtete sich.
»Einen Seelenverwandten bewusst oder unvorbereitet zu verlieren, ist ein gewaltiger Unterschied, nicht wahr, Fische?«, teilte Pixo mit. »Deswegen war es schon immer dein Wunsch gewesen, stärker zu werden. Immer stärker, bis du dann als Junge geboren wurdest.«
Wir müssen weg, aber diese Unterhaltung ist Pixo offenbar wichtig … er öffnet sich uns zum ersten Mal, oder?
»Es schmerzt bestimmt doller«, antwortete sie anstelle ihres Gefährten. »Keine Chance zu haben, sich mental darauf vorzubereiten, ist härter und zerfrisst dich innerlich. Allein die Vorstellung ist grausam … hör zu, das tut mir unendlich leid für dich, dass du diese Erfahrungen machen musstest, wirklich, aber lasse uns zurückgehen und in Ruhe wo anders –«
»Richtig beschrieben.« Pixo näherte sich. »Du weißt es, Krebs. Skorpione sind für eines besonders bekannt.«
Ein breites Grinsen erschien auf dem Gesicht des Älteren. Obwohl er seine Zähne zeigte, wirke es sich nicht besonders entspannend auf sie aus. In diesem Moment erinnerten seine Augen an die seines Tieres, das seine Stachel zum Angriff hob.
»Häh?«
»Wir sind extrem nachtragend.«
Dann geschah alles in rasanter Geschwindigkeit.
Der Ältere wollte nach ihren Haaren greifen. Wie ein Schutzschild schoss Pisan vor ihr. Er bildete aus Eis eine große Keule. Damit schlug er gnadenlos auf Pixo ein. Cana fiel auf den Hintern. Die Beine wurden zu Gummi, als sie die Farbe Rot an der Waffe sah. Das Eis zersplitterte in unterschiedlichen Brocken und flog in alle Richtungen. Pixos Gesicht riss nach rechts. Aus seinem Mund tropfte eine kleine Menge Blut.
»Renn!«, schrie Fische.
Canas Schädel blieb auf Standby.
Sie spürte, wie Pisan nach ihrer Hand schnappte. Gemeinsam rannten sie in den Schneewald hinein.