Ihre Saison endete – die von Löwe begann.
Das Zimmer, in dem Cana lebte, befand sich im Keller. Alles war unter Wasser gesetzt. Hier konnte niemand ihre Tränen sehen. An diesem Ort brauchte sie nichts zurückzuhalten.
Die Bilder der toten Babys drangen in gewissen Abständen in ihrem Verstand ein. Die Gedanken überschlugen sich, bis sie sich wie ein Häufchen Elend fühlte. Der Hunger zehrte zusätzlich an ihren Nerven.
Das rote Haar ließ sich vom Wasser treiben. Bläschen kamen aus ihrem Mund, als sie schnaubte. Ein Fischschwarm schwamm an ihr vorbei. Einer von ihnen blieb direkt vor ihrem Gesicht stehen. Vorsichtig tippte sie ihm auf dem Mund. Sie lächelte mild.
Dumpf nahm sie von oben ein Geräusch wahr. Der Fisch verschwand augenblicklich. Jemand stand auf der letzten Treppenstufe. Ehe sie sich versah, sprang derjenige mit einem Hechtsprung hinein. Nachdem sie ihn erkannte hatte, ging ihr das Herz auf.
»Was machst du hier, Pisan?«
Der Dreizehnjährige schürzte die Lippen. Geschmeidig bewegte er sich im Wasser. Viel schöner als sie. »Ding-dong. Wir sind zuhause, Krebs.«
»Ja-ha, Fische, geh wieder, bevor du Ärger bekommst.«
Mit einem letzten Schwung saß er direkt neben ihr. Die grauen Augen funkelten sie an. Es war, als hätte sie ihn beleidigt. »Nö. Ich habe vor, zu bleiben.« Das blass-blaue Haar bewegte sich wie Seetang umher.
»Du weißt, was das bedeutet: auch weniger Essen für dich.«
Ein breites Grinsen erschien. Zunge schnalzend zuckte er mit den Schultern. »Dann ist das eben so. Ich bleibe bei dir. Zu zweit weinen, macht mehr Spaß. Außerdem müssen wir als die Jüngsten zusammenhalten, nicht wahr?«
Umgehend nahm sie ihn in die Arme. Sie presste die Wange an seine. Das brachte ihn zum Kichern. Wie lange war es her, wo sie jemanden gespürt hatte? Sie verlor ihr Zeitgefühl, seitdem sie im Zimmer eingesperrt war. Die Gänsehaut verriet, wie sehr sie nach Berührungen lechzte. Nach und nach kehrten die Tränen zurück. Der Magen knurrte.
Alles ist so doof. Doof, doof, doof! Nichts mache ich richtig.
»Als ich erfuhr, was passiert war, war ich überrascht.« Fische löste sich von ihr. Sein Blick blieb starr auf zwölf Uhr gerichtet. »Es klingt einfach nicht nach dir. Du riskierst es niemals, dass jemand stirbt. Was ist wirklich passiert? Sagst du es mir? Warum warst du nicht dort? Wo warst du?«
Sollte sie Fische darüber in Kenntnis setzten? Sollte er von ihre Suche nach dem dreizehnten Sternzeichen erfahren? Nicht das Vertrauen in ihm fehlte – es gab niemanden, dem sie mehr vertraute –, sondern sie wollte ihn nicht in die Sache hineinziehen. Der Kleine sollte durch sie keinen weiteren Ärger bekommen.
»Ich habe dich lieb, weißt du, Krebs?«, kam es aus ihm heraus. Immer noch sah er sie nicht an. Die Wangen erröteten. Stattdessen fasste er sich an beiden Fußspitzen und setzte das Kinn auf den angezogenen Beinen ab. »Sehr dolle lieb. Mir geht es schlecht, wenn es dir schlecht geht. Irgendetwas bedrückt dich, oder? Ich spüre es doch.«
Stumm nickte sie. »Es –«
Mit einem lauten Knall krachte die Tür gegen die Wand. Beide spähten abrupt hoch, nachdem sie zusammengezuckt waren. Mit einer geballten Faust schaute Stier zu ihnen herunter. Cana sah ihn seit einer Weile nicht mehr. Was trieb ihn ausgerechnet jetzt zu ihr? Darüber hinaus vermied er es, mit ihr im selben Raum zu sein. Zumindest kam es ihr häufiger so vor.
Am Türrahmen angelehnt, war Steinbock. Er hielt den Blick hartnäckig gesenkt. Etwas, das sie nicht klar identifizieren konnte, befand sich in seiner Hand. Als fühlte er sich ertappt, verstaute er es in die Seitentasche seines Hoodies.
»Komm sofort her, Krebs!«, verlangte Stier.
Lag es an der Wasserspieglung oder wirkten seine schwarzen Augen dunkler als sonst? Den eigenen Namen aus seinem Mund zu hören, löste ein Prickeln auf ihrer Haut aus. Weder er noch Steinbock benutzten ihren Namen. Wenn sie überhaupt mit ihr sprachen, war sie einfach nur Du da.
Cana schluckte. Der Hals fühlte sich trotz der Umgebung trocken an. Sie griff nach Pisans Hand. Dieser erwiderte das Händchenhalten. »Äh. Wa-warum denn?«
»Komm her, habe ich gesagt!«
Stier war ein Erdzeichen. In der Regel war er ein geduldiges Sternzeichen. Was war plötzlich in ihm gefahren? Den zerknirschten Gesichtsausdruck, den er machte, passte ebenfalls nicht zu ihm, sondern viel mehr zu Widder.
Cana schüttelte den Kopf. Irgendwann raste ihr Herz. Solange sie im Wasser war, war sie in Sicherheit.
»Was – du willst nicht?« Stier setzte sich in Bewegung. Bevor er ins Wasser tauchte, gefror Cana die Oberfläche schleunigst zu, während der Rest flüssig blieb. Stier saß mit allen Vieren auf dem Eis. Wild schlug er mit der Faust auf es ein, sodass die Fische oberhalb das Weite suchten. Das Pochen, das von ihm kam, erreichte sogar Cana. Es wurde laut unter Wasser. »Ist das dein verdammter Ernst? Löse es, jetzt!«
Wieder schüttelte Cana den Kopf. Sie presste Fisches Hand fester, bis er ein Zischen von sich gab. Begriff Stier nicht, dass sie gerade nicht mit ihm reden wollte? Er war ihr unheimlich. War das der Stier, den sie kannte?
Schnaubend stieß sich Steinbock von der Wand ab und marschierte auf das Eis. Er kniete sich neben ihn und redete auf ein. Das Rauschen des Wassers – da die Meerestiere unruhiger wurden – erschwerte ihr das Hören. Häufig schaffte es Steinbock als einzige Person, Stier zu etwas zu bewegen. Heute nicht.
»Mach auf!«, brüllte Stier.
Bevor er mit voller Wucht einschlagen konnte, löste sich das Eis auf und beide Erdzeichen landeten mit einem Ruck im Wasser. Sie japsten nach Luft, so unerwartet wie ihnen der Boden unter den Füßen gezogen wurde.
Tadelnd blickte Cana zu Fische.
»Bevor er sich die Hand bricht«, setzte Fische entschuldigend an – seine Augen waren starr geweitet und er zitterte, »dachte ich, müssen wir wenigstens nachgeben. Sei mir nicht böse.«
Prompt schwamm sie an die Oberfläche. Ein Meter von ihnen entfernt wartete sie auf eine Reaktion. Wenn eine direkte Konfrontation nicht zu vermeiden war, musste sie sich dem stellen.
»Wie kannst du es wagen, zu faulenzen?«, keifte Stier sie an. »Was glaubst du wer du bist, dass du tust, was du willst? Sie hätte sich für dich geschämt!«
»Sie?«, wunderte Cana sich. Die Stirn in Falten legend, schaute sie zu Pisan herab, der ahnungslos mit den Schultern zuckte. »Wen meinst du, Stier?«
»Nimm meinen Namen nicht in deinem Mund!« Die Flüssigkeit träufelte von seinen blonden Haaren. Ein paar Tropfen rannen zum Teil an seinem Gesicht entlang. Er verringerte die Distanz zwischen sich und ihr, während Steinbock zaghaft an seinem Arm zog.
Cana bekam einen Kloß im Hals. »O-okay. Dann eben, Taun. Ich verstehe nicht, was mit – «
»Und für so einen Abschaum wie dich musste sie …«, setzte er an.
Er biss die Zähne zusammen, als der Griff um seinen Arm stärker wurde. Er beäugte Steinbock, der wortlos den Kopf schüttelte. Ohne eine weitere Minute abwartend, stieg Stier aus dem Wasser. Einmal trat er mit voller Kraft gegen die Tür, bevor er den Raum verließ. Das Schmatzen seiner nassen Schuhe hallte eine Weile. Wo blieb die sonst stetige Besonnenheit, worüber die anderen schwärmten?
Steinbock, der ihm folgen wollte, blieb mit seinem rechten Bein im Wasser stecken, als die Temperaturen drastisch ins Minus sanken. Schweigend sah er von seinem Bein zu Cana.
»Bleib doch bei uns, Stein – ähm.« Würde er ebenfalls wütend werden, wenn sie ihm beim wahren Namen ansprach? Er wirkte stets unnahbar und schlecht gelaunt, sodass sie sich selten nach seiner Nähe sehnte. Der Blickduell zwischen ihnen wurde zigmal unterbrochen, weil er aufs Eis starrte. Es kam selten vor, dass er einem in die Augen schaute.
Der einzige Familienmitglied, der seine Nähe zu genießen schien, war Stier. »Ähm, ich meine, also … Capyo.« Seinen Pseudonym auszusprechen, erforderte eine Menge Überwindung, aber sie schaffte es. Irgendwie.
Die Kühle in seinen blauen Augen ließ sie schaudern. Er trug einer seiner Geburtsteine als Kette um den Hals. Eine andere war um sein Handgelenk befestigt. Ihre Aufmerksamkeit fokussierte sich auf dem Tropfen, der von dem Amethyst herunterglitt.
Die Oberfläche wackelte. Ein Teil des Wassers bewegte sich auf die Wand zu, als hätte jemand das Zimmer schief gelegt. Später bemerkte sie, dass der gesamte Raum bebte. Noch einmal riskierte sie es, in die Augen des Schwarzhaarigen zu blicken. Sie hatte ihn verstanden.
Seufzend gab sie das Bein frei. Die Eiskristalle verflüssigten sich. Steinbock konnte flüchten. Die Erde wackelte nicht mehr.
Wie ein Seestern streckte Cana die Gliedmaßen. Ihr Gesicht war im Wasser getaucht. Sie schäumte es auf, als sie zu blubbern anfing. Ihr war nach Schreien zumute.
Das ist doch … alles total frustrierend. Ich kann es nicht rückgängig machen. Es bringt mir nichts, wenn mich jeder darauf hinweist, dass ich einen Fehler gemacht habe – Manometer! Mehr Tränen habe ich nicht!
Irgendwann tauchte Fische auf. Das Zittern stellte sich bei ihm ein, seitdem die Erdzeichen gegangen waren. »Was war das für eine Theater?«
»Das wüsste ich auch gerne.«
Wie ein Stück Holz ließ sie sich treiben. Sie besaß kaum Energie – sie wollte essen! Irgendwann knallte etwas Knisterndes gegen ihre Schläfe. Sie kniff ein Auge zusammen. Neben ihr schwamm eine Packung Reiswaffel mit Schokoladenüberzug.
»Woher kommt das auf einmal?«
Canas Mundwinkeln erhoben sich. Später kamen die Zähne zum Vorschein. Der Magen machte große Sprünge. Übelkeit und Hunger vermischten sich und wurden zu einer Einheit.
»Keine Ahnung, aber … darf ich anrichten, der Herr? Heute wird fein gegessen. Yay!«