Die heutige Nacht war nebelig.
Ob Cana Ärger bekommen würde, wenn sie um die Uhrzeit alleine unterwegs war? Zwar hatte sie nicht viele Informationen, aber sie brachte in Erfahrung, dass das dreizehnte Sternzeichen sich ausschließlich in der Nacht zeigte.
Der Nebel war merkwürdig. Es war, als bündelte er sich an bestimmten Ecken und verformte sich. War das ein Zeichen? Ein Wegweiser? Einige angetrunkene Menschen, die an ihr vorbeigingen, bemerkten die Abnormalität nicht.
Ihr rutschte das Herz in die Hose, als jemand sich an sie schmiegte. Fische grinste sie an und brachte ihr Herz zum Flattern. »Hi, du.«
»Pisan … was machst du –«
»Bist du auf der Suche nach … ihm?«
Vor ein paar Tagen hielt es Cana nicht mehr aus, sich niemandem zu öffnen. Letztendlich war sie eingeknickt und offenbarte Fische, welches Ziel sie verfolgte. Es konnte Einbildung sein, aber seitdem er Bescheid wusste, wich er ihr seltener von der Seite.
»Pisan, egal was du zu sagen hast, ich gehe!«
Die Straßenlaternen warfen ihr Licht auf sie, sodass sie erkennen konnte, wie sich seine Augenlider senkten. Er presste die Lippen zu einer schmalen Linie. Sein Körper schlotterte. War ihm kalt?
»Hör mal«, begann sie und drehte sich zu ihm um. Obwohl sie ihn oftmals als Kleinen bezeichnete, überragte er sie mit seiner Größe, sobald er stand. Daher musste sie den Kopf etwas in den Nacken legen, um ihm in die Augen zu schauen. »Ich habe nachgedacht. Irgendwie scheinen noch mehr Geheimnisse um uns herum zu existieren. Ich meine, warum bin ich das einzige weibliche Sternzeichen, zum Beispiel? Warum sind wir die einzigen jüngsten? Was bedeutet all das?«
Ihr war nicht bekannt, wie alt die Sternzeichen waren, aber sie wusste, dass sie ab einem bestimmten Alter nicht mehr alterten. Sie wirkten wie in ihren Zwanzigern, aber mit Sicherheit hatten sie mehrere Jahrzehnte erlebt.
Fische seufzte. »Manchmal wünschte ich, du würdest weniger Fragen stellen. Weniger … neugierig sein.« Noch einmal seufzte er. »Also gut.«
»Also gut was?«
»Ich führe dich zu ihm.«
Cana blinzelte mehrmals hintereinander. Hatte sie sich gerade verhört? Irgendwo in der Ferne ging ein Alarm los. Das brachte sie dazu, zusammenzuzucken. Das wievielte Auto war es in dieser Woche, in das eingebrochen wurde?
»Du weißt, wo Asklepios ist und sagst es mir erst jetzt?«, hauchte sie. Sie verzog den Mund und bemühte sich um einen finsteren Blick, dem sie ihm zuwarf.
Wortlos schnappte er nach ihrer Hand und zog sie hinter sich her. Sie gingen in verschiedene Gassen. Vor lauter Dunkelheit und dem Nebel kam es ihr so vor, als ob sie im Kreis gingen. Wo war die Straße? Wo waren die vertrauten Häuser? Verliefen sie sich nicht? Diese Gegend wurde von der Düsterheit verschluckt.
»Ich«, setzte Fische an und erregte ihre Aufmerksamkeit, »weiß nicht viel, nur wo er sich aufhält und dass Liony nicht will, dass du dich diesem Ort näherst.«
Nicht … nähern? Ich? Warum?
Der Händedruck verstärkte sich. Er zitterte, also erwiderte sie die Geste. Die Wärme des anderen tat ihr gut.
Je näher sie einem eingestürzten Gebäude kamen, das mit Absperrbänder umringt war, desto kälter wurde es ihr. Das Haus besaß keine Tür. Dort, wo die Tür hätte sein müssen, war lediglich ein großes Loch zum Eintreten. Um das Gebäude herum war dichter, leicht bläulich schimmernder Nebel. Sie musste die Augen zusammenkneifen, um sich auf etwas besser fokussieren zu können.
Beide warteten, bis Fische den ersten Schritt hineinwagte. An ihr rauschten blitzschnell schemenhafte Gestalten begleitet von einer verzehrten Stimme vorbei. An ihrem Körper entstand Gänsehaut. Noch konnte sie umkehren, aber sie setzte einen Schritt nach dem anderen. Ihre Augen gewöhnten sich nach und nach an die Finsternis, die an diesem Ort herrschte.
Sie gingen tiefer hinein. Die Treppe führte offenbar in einem Keller. Der Puls arbeitete auf Hochtouren. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Allmählich trocknete ihre Kehle aus.
»Sollen wir zurück?«, wisperte Fische. Die dünne Stimme brach. Ein Teil echote im Raum umher.
Kopfschüttelnd sah sie ihn an. »Hast du Angst?«
»B-bisschen. Und du?«
»Wenn du bei mir bist, geht es.«
Im letzten Abteil des Gebäudes angekommen, wirkte es so, als wäre sie in einem Verlies wie im Mittelalter gelandet. Dicke Eisenstangen trennten einen Raum vom anderen. Dieser Ort stank. Es roch nach etwas Verwesendem. Cana konnte ein Wimmern nicht verhindern, als ihr zwei gelbe Augen entgegen starrten. Die Gestalt war die pure Finsternis. Sein Körper waberte wie Feuer, als würde er aus Gas bestehen.
»Ha-hallo.« Sie hob die freie Hand zum Gruß. »Bist du … äh … Asklepios?«
Ein starker Windzug tauchte auf und wirbelte ihre Haare durcheinander. Kurzzeitig blieb ihr der Atem weg. War das seine Antwort? Konnte er nicht sprechen?
»Ich, ähm, ja.« Sie wagte einen Schritt auf das Verlies zu, während sie Fisches Hand nicht losließ. »Wir wollen dir helfen … dich kennenlernen. Ich bin Krebs und das hier ist Fische. Auch Cana und Pisan werden wir gerufen.«
Das dreizehnte Sternzeichen zog die Beine ein, worauf er das Gesicht bettete. Von irgendwoher hörte man Wasser auf dem Boden tropfen. Der Anblick, der er ihr bot, schnürte ihr die Kehle zu. Sie konnte niemanden entdecken. Er war alleine hier. Für wie lange? Wer war so grausam und sperrte ihn ein?
»Asklepios? Ähm. Weißt du, du gehörst doch auch zu uns. Das ist nicht fair, dass du hier gefangen genommen wirst. Wir wollen dir deine Freiheit wieder geben.«
Zustimmend nickte Fische. Seine Zähne klapperten leicht.
»Du bist doch auch unsere Familie«, rief sie, in der Hoffnung, etwas würde sich in ihm regen. Den Mut zusammennehmend, ließ sie die Hand von Fische los. Sie näherte sich den Stangen. Wo war das Schlüsselloch? Sie musste ihn freilassen. Niemand verdiente es, eingesperrt zu werden.
»Warum?«, hörte sie die fremde Stimme. Er hob den Kopf. Unerwartet weich und zerbrechlich klang er. »Warum kommst du immer wieder hier her?«
Immer wieder hier her …?
Cana zeigte auf sich und neigte den Kopf. Hinterher drehte sie sich zu Fische um. Die Falten, die sich auf seiner Stirn zeigten, verrieten ihr, dass er genauso verwirrt war.
»Wir sind das erste Mal –«
»Geht«, verlangte Asklepios. »Ihr beiden.«
»Aber –«
»Verschwindet!«
Der Raum bebte. Ein Zischen ging wie ein elektrischer Funken an ihre Wangen vorbei. Sie zuckte und kniff die Augen zusammen. Ihre Nase kribbelte. Wenn sie angeschrien wurde, geschah es häufiger, dass sie einen Kloß im Hals bekam.
Als sie die Augen öffnete, fiel ihr etwas Entscheidendes auf. Ihr Mund klappte auf. Die Tür zu seinem Verlies war ein Spalt offen. Er war nicht gefangen. Er war freiwillig hier. Aber warum? Wie konnte man sich freiwillig in diese Isolation begeben? Außerdem schien er nicht glücklich an diesem Ort zu sein, denn die gelben Augen besaßen kaum Glanz. Kaum Leben.
Eine wabernde Gliedmaße von ihm war vor ihrem Gesicht. Sie schluckte. War das eine Hand? Obwohl er sie sanft an der Wange tätschelte, hinterließ er ein brennendes Ziehen auf ihrer Haut. Es war, als brutzelte Öl, sobald sie sich berührten.
»Tut mir leid«, flüsterte er und versetzte ihr einen Stoß in die andere Richtung. »Verlasse diesen Ort und kehre nicht zurück, Krebs. Höre wenigstens einmal auf mich.«
Fische hatte es auf einmal besonders eilig. Er griff nach ihrem Arm und dirigierte sie aus dem Raum, während sie den Kopf zu Asklepios umdrehte. Bis zum Schluss sah er ihr nicht in die Augen. Stattdessen entstand mehr Finsternis um ihn herum, bis er mit der Umgebung verschmolz.
Was tut dir leid, Asklepios? Warum entschuldigst du dich auf einmal bei mir? Ich verstehe gerade gar nichts.
Im Freien angekommen, schreckten Cana und Fische auf, als sie den bekannten Grünhaarigen in einer Ecke erblickten. Aus dem Schatten trat Skorpion hervor, als hätte er auf sie gewartet.
»Pixo?«, platzte sein Pseudonym aus ihr heraus. »Du … was äh …«
Er verstaute die Hände in den Jackentaschen. Seine türkisfarbenen Augen richtete sich auf sie, als würde Fische nicht ebenfalls da sein. »Ich habe euch nicht gesehen. Na los, geht schon nach Hause.«
»Du verrätst uns nicht?« Canas Gesicht hellte auf. Während sie sich darauf gefasst machte, Ärger zu bekommen, geschah etwas, womit sie nicht rechnete. »Du berichtest Liony nichts?« Es war zu schön, um wahr zu sein. Seit wann machte Skorpion etwas Gutes ohne Gegenleistung? So schnell wie die Freude in ihr gewachsen war, so schnell keimte Misstrauen auf.
»Natürlich nicht. Wir Wasserzeichen müssen doch zusammenhalten, nicht wahr?« Er grinste breit.
»Stimmt«, antwortete Fische, nachdem Cana verstummt war. »Danke, Pixo. Das ist wirklich total lieb von dir. Nicht wahr, Cana?«
Umgehend setzte sie sich in Bewegung und ließ Fische keine weitere Möglichkeit, um ein Gespräch mit Skorpion zu führen. Skorpion hatte ein Grinsen, das ihr immer wieder durch und durch ging.
»Was ist los?«, wollte Fische wissen, als sie weit genug weg waren.
Cana zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, irgendwie finde ich Pixo gruselig. Schon immer. Das ist irgendein Gefühl, das ich nicht ganz zuordnen kann.«