Das Kinn auf beide Handflächen abgestützt, saß Cana auf einer leeren Bank in der Nähe ihres Zuhauses und schnaubte bereits das siebte Mal in Folge.
Dass sie sterben würde, ging ihr seit Wochen nicht aus dem Sinn. Wie würde es dazu kommen? Erging es jedem Krebs auf dieser Welt so? Dass sie niemals älter wurden als sechzehn?
Und er verheimlicht es mir … einfach so.
Sie verzog den Mund und ihr Gesicht verdüsterte sich, während sie dem Laub vor ihren Füßen, das durch den Wind angetrieben wurde, tänzelnd sah. Der Gedanke daran, dass Steinbock Bescheid wusste und sie nicht in Kenntnis setzte, störte sie. Mehr als bei den anderen.
Seitdem sie über ihr baldigen Tod erfuhr, kamen Erinnerungsfetzen zurück. Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Kind von Steinbock auf dem Rücken getragen wurde, wie er ihr Geschichten erzählte und ihr eine Stütze war, bis Fische geboren war und die quälende Sehnsucht beendet war.
Gerade jetzt, wo ihre Kindheit vor ihrem geistigen Auge neu auflebte, stach es in ihrem Herzen, dass ausgerechnet er geschwiegen hatte. Derjenige, der sie wie ein Vater großgezogen hatte.
Blödmann!
Die Tür fiel ins Schloss. Jungfrau kam eilig aus dem Haus gestürmt. Trotz etlicher Terminen und Pflichten erlebte sie ihn nie schlecht oder unordentlich gekleidet. Er tippte in seinem Tablet herum. Als er den Kopf kurz hob und sie erblickte, winkte er ihr lächelnd zu.
»Viel Erfolg«, rief sie, »und passe gut auf dich auf, Vir.«
Die Saison von Jungfrau lief auf Hochtouren. Unter seinen Augen waren tiefe Schatten. Normalerweise half der Make-up, die Spuren seiner Erschöpfung zu verbergen, aber nicht heute. Er war einer derjenigen, der sich Hals über Kopf in die Arbeit stürzte und sich sogar überarbeitete, ohne es groß zu bemerken.
Mit gerunzelter Stirn kam er auf sie zu. »Warum sagst du das?«
»Hm?«
»Jedes Jahr sagst du das, bevor ich aufbreche«, berichtete er. »Ich passe doch immer gut auf mich auf.«
Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Ob es heute das letzte Mal war, wo sie Jungfrau zu sehen bekam? Ab wann begann ihr letzter Tag? Hätte sie noch Zeit, sich von allen zu verabschieden?
Jetzt werde bloß nicht sentimental, Krebs. Nicht richtiger Moment … nein.
»Wenn ein Krebs, passe gut auf dich auf, sagt, ist das eine andere Form von, ich habe dich lieb«, teilte sie grinsend mit. »Ich möchte nicht, dass irgendetwas … mit euch passiert.«
Kurz flackerte etwas in seinen Augen auf. Sein Kehlkopf bewegte sich, als er schluckte. Ob er den Wink verstanden hatte? Wusste jeder über ihr Tod Bescheid außer sie und Fische?
»Du bist heute merkwürdig, Cana«, murmelte er. Er neigte den Kopf schräger. »Soll ich Fische ruf –«
»Nein«, schüttelte sie entschieden den Kopf.
Auch er war neben der Spur, seitdem das Wort Tod gefallen war. Wenigstens vor ihm wollte sie die Starke mimen, damit er sich keine Sorgen machte, allerdings fiel es ihr nicht leicht. Die beste Lösung war, auch wenn die Sehnsucht sie hin und wieder packte, sich von Fische fernzuhalten.
Der Tablet ertönte. Umgehend blickte Jungfrau auf dem Bildschirm und schob die Brille hoch auf die Nase. »Oh nein. Ich rede zu viel. Wenn ich mich jetzt auf dem Weg mache, habe ich nach meiner Berechnung noch Zeit, Hausbesuche zu machen. Warum wollen einige Menschen unbedingt zuhause gebären? Damit machen sie es uns nicht einfacher. Wenn ihnen das nur klar wäre.« Er seufzte bitter. »Ich muss los, Cana. Ich gebe mein Bestes.« Dann zwinkerte er ihr zu. »Und wenn eine Jungfrau so was sagt, heißt es, ich bleibe stark, damit du dir keine Sorgen um mich machen musst.« Er tätschelte ihr den Kopf und düste eilig davon.
Und wieder war sie mit ihren Gedanken alleine.
Sich entscheidend, spazieren zu gehen, stand sie auf. Die Hände in den Hosentaschen verstaut, schlenderte sie ohne Ziel umher. Einen Blick auf den Menschen riskierend, sah sie die unterschiedlichsten Symbole der Sternzeichen aufblitzen. Sie sahen sie nicht, aber jedes Sternzeichen konnte die Symbole klar und deutlich auf der Haut der Menschen entdecken.
Als ob man sie ärgern wollte, sah sie häufiger das V mit der schiefen sechs daran – Steinbocks Symbol. Überall an ihren Körper prangte das Zeichen. An allen Ecken und Enden waren seine Spuren.
So funktioniert es nicht mit dem Vergessen, Mann!
Ein lauter Krach holte sie aus ihren Gedanken. Eine Menschentraube stand um etwas herum. Trotz Springen und Strecken konnte sie nichts sehen. Daher drängte sie sich zwischen den Leuten, um in Erfahrung zu bringen, was passiert war. Die Neugierde wuchs und wuchs. Die Hände wurden feuchter. Das Herz raste.
Ihre Augen wurden groß, als sie Schütze vor einem gefallenen Mann stehend sah, während er die Faust gestreckt hielt. So, als ob er dem Mann in dem Augenblick einen Schlag verpasst hatte. Ein Grinsen zierte Schützes Gesicht. Keiner bemerkte es, aber die Faust glühte noch leicht und die Haut des Mannes wirkte leicht verkohlt.
Cana schrie kurz auf und lenkte die Aufmerksamkeit auf sich. Ohne zu überlegen, rannte sie zu Schütze und nahm seine Hand. »Komm, wir gehen, Riam.« Wollte er sich vor allen Menschen outen oder was war sein Plan? Niemand wusste, was mit Sternzeichen geschah, die ihre Identität preisgaben.
»Spinnst du?«, herrschte er sie an. »Ich bin gerade dabei, etwas Wichtiges mit dieser Bitch zu klären.«
»Indem du dich prügelst mit – äh.« Cana blickte zu dem röchelnden Mann hinunter, der doppelt breiter gebaut war als Schütze. Auf seiner Wange tauchte das Symbole von Löwe auf. Der Mann verschmierte das Blut, das von seiner Nase kam oberhalb seines Mundes.
Widerwillig ließ sich Schütze von ihr aus dem Kreis der Aufmerksamkeit ziehen, nachdem er Canas Welpenblick zu Gesicht bekommen hatte. Bevor die Polizei eintraf, verschwanden sie. Wenn Liony davon erfuhr, würde Schütze großen Ärger bekommen. Aber vielleicht war es genau das, was er wollte. Zwischen ihnen funkte es häufiger.
»Warum seid ihr Feuerzeichen immer so angriffslustig? Warum verursacht ihr dauernd Ärger?« Cana schnaubte und ließ seine Hand los, nachdem sie weit genug von den Menschen entfernt waren.
Riam grinste verwegen. »Ach, komm schon. Du bist nicht unsere Mutter. Ist doch langweilig ohne Reibungen im Leben, oder? Action versüßt den Alltag. Solltest du auch mal probieren, langweilige Cana.«
»Ich«, begann sie schmollend und zeigte mit dem Finger auf ihn, »bin nicht langweilig. Höchstens harmoniebedürftig. Das ist ein klarer Unterschied! Wenn Liony –«
»Was juckt mich, was der Kerl denkt«, ging Schütze dazwischen. Er winkte ab. »Du würdest viel entspannter durchs Leben gehen, wenn du aufhören würdest, den Overthinker heraushängen zu lassen, du Langweiler. Und denke doch nicht dauernd an andere. Sei frei, Cana. Sei frei.«
»Hey, rede nicht so, er gehört auch zur Familie! Und zusätzlich ist er unser –«
»Bla, bla, bla«, unterbrach er sie grinsend. Er zwickte in ihre Wangen und verformte ihr Gesicht zu einer Grimasse. »Wann kapiert ihr Krebse endlich mal, dass Familie nicht alles im Leben ist, he? Deine Vorgängerin hat mich genauso damit genervt. Und was hat es ihr gebracht? Gar nichts. Freiheit ist wichtiger als alles andere. Wenn dir eine sogenannte Familie Ketten anlegt und dich in deiner Freiheit beraubt, ist das keine Familie. Punkt.«
Was … hat er … gesagt …?
Sie riss die Augen weit auf.
»Was guckst du so? Ist doch so!« Er zuckte mit den Schultern. »Manchmal ist Blut dann doch nicht dicker als Wasser.«
Sie senkte den Kopf. Ihre Vorgängerin. War sie wirklich so wie sie? Werden die Krebse, die nach ihr kommen würden, den gleichen Weg einschlagen wie sie selbst? Gab es keine Unterschiede?
Fakt war, sie waren das, was die Menschen sich über sie vorstellten. So war es möglich, dass ihre Persönlichkeiten und Aussehen sich mit der Zeit veränderte, wenn die Menschen sie anders interpretierten.
Sind wir nicht mehr als das? Müssen wir Sternzeichen und Menschen so voneinander abhängig sein? Ist unsere einzige Daseinsberechtigung nur die, um den Menschen ein Leben zu ermöglichen?
»Nein.«
Rasch hob sie den Kopf und blickte ihn verdutzt an. »Was meinst –«
»Das«, begann er und tippte ihr gegen die Stirn, »was du denkst, stimmt nicht. Wir sind nicht nur dafür da, damit Menschen leben können. Auch wir haben das Recht auf ein Leben. Sogar von ihnen lasse ich mir nichts sagen, das hast du schließlich öfter mitbekommen. Wenn ich keine Energie habe, lasse ich die Neugeborenen sterben statt mich zu opfern und ich habe kein schlechtes Gewissen oder heule herum wie du, wenn ich nicht alle retten kann. Ist doch klar. Niemand ist es wert, sein Leben für ihn herzugeben. Und wir leben auf diesem kranken Planeten, um kranken Spaß zu haben!«
»Woher weißt du, was ich gerade gedacht –«
»Wie gesagt, deine Vorgängerin hat sich mit ähnlichen Gedanken gequält. Sich immer für andere zu opfern, ist doch das Motto von euch. Hör zu. An erster Stelle solltest du dich lieben, Cana. Immer nur dich. Niemanden kann es mehr als du.«
Ihr Mund öffnete sich, aber sie bekam kein Wort zustande. Ihr Hals schwoll an. Ein Ziehen in der Nase brach über sie ein.
»Überzeugend genug oder soll ich weiter reden?«
Sie blinzelte. Schnell hintereinander, um den Tränen keine Chance zu geben.
Nach einer Weile des Überlegens erwiderte sie: »Ich bin voll erstaunt, Riam. Du kriegst auch mal kluge Sprüche aus dir heraus. Ich hätte nie gedacht, dass du mal weise sein kannst, weil normalerweise bist du schon –« Sie bekam eine gewaltige Kopfnuss von ihm verpasst. »Autsch. Das tut weh! Wofür war der?«
»Damit du aufhörst, zu denken. Gern geschehen.«
Beide schauten sich an – er frech grinsend, sie grimmig dreinblickend –, bis sie losprusteten.