In der Hausbibliothek herrschte große Unordnung. Cana durchsuchte jedes einzelne Werk, den sie zwischen den Finger bekam. Hatte niemand der alten Sternzeichen etwas für die neuen Sternzeichen hinterlassen? Ihr war bekannt, dass Löwe und Skorpion die Ältesten waren. Aber sogar vor ihnen muss es eine andere Generation gegeben haben, die etwas mehr wusste als sie.
»Können wir aufhören?« Fische seufzte schon das dritte Mal in Folge. Er blätterte in einem Buch und schien ausgelaugt zu sein. »Ich glaube nicht, dass wir hier die Antworten finden, wonach wir suchen. Selbst, wenn die anderen etwas vor uns verbergen, die werden doch nicht so doof sein und die Hinweise hier verteilen. Oder? Ich möchte unsere Zeit lieber effizienter nutzen, Cana. Wir müssen einen anderen Weg finden.«
Die Regale nahmen den gesamten Raum ein. Bis sie alle Bücher durchgeschaut hatten, würde es mindestens Mitternacht sein. Zwar würde Pisan recht behalten, aber sie konnte nicht anders, als weiterzumachen. Ihr Wissensdurst blieb erhalten.
»Danke, dass du mir hilfst, Fische. Wenn du müde bist, darfst du gehen.«
Nichts. Nichts. Gar nichts Interessantes fand sie. Zu Beginn war sie gründlicher. Mittlerweile warf sie die Bücher direkt, sobald die ersten Seiten nichts Spannendes preisgaben. Das Brennen der Augen verriet, wie trocken sie vom Lesen wurden. Aufhören war trotz Erschöpfung keine Option.
Gerade als sie nach dem nächsten greifen wollte, fasste Fische nach ihrem Handgelenk. Er schürzte die Lippen.
»Was ist los?«, wunderte sie sich.
»Als ob ich gehe, während du dich weiter verausgabst.« Er ließ sie los und stellte sich vor Cana. »Ich werde alles tun, damit du leben kannst. Wie kannst du mich einfach so wegschicken?«
»Nein, so meinte ich das doch gar –«
Er kam ihr näher. Sie spürte sein Atem auf der Haut. »Was denkst du eigentlich über mich?«
»Häh?«
»Ich will nicht von dir als Kind gesehen werden, weißt du?«
In ihrem Kopf herrschte unendliche Leere. Sie blinzelte ahnungslos. Lag es daran, weil sie in letzter Zeit wenig zusammen waren? Solch merkwürdige Fragen stellte er in der Regel nicht.
»Ich mag dich … sehr, okay?« Er kratzte sich am Hinterkopf. Sie gewann den Eindruck, dass er nicht so recht wusste, wie er die Worte formulieren sollte. »Verstehst du, was ich meine? Irgendwann, wenn wir groß sind, möchte ich erwachsene Dinge mit dir tun. So wie die anderen untereinander.«
»Erwachsene Dinge?«
»Ja.« Er bekam rote Wangen. Es war eine erfrischende Abwechslung, Farbe in seinem Gesicht zu sehen. Er führte den Zeige- und Mittelfinger an seine Lippen und danach an ihre. »So was, zum Beispiel.«
»Wa-wa-was …« Nun fing sie Feuer. Der Druck seiner Finger war noch an ihrem Mund zu spüren. »Was ist mit dir los?«
»Es verändert sich so vieles in schnellster Zeit«, teilte er ihr mit und schaute hierbei zur Seite. »Keine Ahnung, ich komme nicht hinterher. Ich weiß nicht, warum du unter Stiers Beobachtung stehst, aber ich weiß, es nervt mich. Mich nerven diese sehnsüchtige Blicke von ihm. Ich merke das doch!«
»Taun hat doch keine sehnsüchtige –«
»So, ich habe gesagt, was ich sagen wollte.«
Während er es vermied ihr ins Gesicht zu schauen, bemühte sie sich um Augenkontakt. Ein paar Atemzüge später legte sie die Arme um ihn. Die Bücher rückten in den Hintergrund. Jetzt nahm ihr nichts die Aufmerksamkeit außer ihr Seelenverwandter. Die Schwingungen, die von ihm kamen, sorgte für ein Durcheinander in ihrem Kopf.
»Niemand ist mir wichtiger als du, Fische. Vergiss das nicht.«
»Mh.«
»Ich habe dich doch auch ganz dolle lieb. Niemanden mehr als dich. Tut mir leid, dass ich das dir nicht deutlich genug gezeigt habe. Absolut niemand kann dich jemals ersetzen, so wichtig bist du mir.«
Gerade fühlte er sich heiß an. Von Minute zu Minute erhöhte es sich bis zum Maximum. Es war angenehm und wärmte sie auf, sodass sich das Chaos in ihrem Schädel sich eine Weile legte, nur damit eine andere Art von Verwirrung aufstieg. Als er die Umarmung erwiderte, bekam sie Bauchkribbeln. Sie blinzelte irritiert. Warum schlug ihr Herz jetzt schneller? Es flatterte in ihrem Inneren.
Oh Mann. Was ist denn jetzt los mit mir? So intensiv habe ich es bislang noch nie gefühlt, oder? Ablenkung … ich brauche eine Ablenk –
Anhand eines zufälligen Blickes registrierte sie ein bläuliches Schimmern, das vom Licht zwischendurch gebrochen wurde. Als würde feiner, blauer Staub im Licht tanzen. Es fiel ihr vorher nie auf, doch je länger sie es betrachtete, desto deutlicher wurde es. Als sie Pisan losließ, blickte er sie Kopf neigend an.
»Fische, eine Wasserspiegelung in der Ecke. Guck!«
Sofort rannte sie in die Richtung. Kaum berührte sie das Schimmern, brach es ab und gab einen Blick auf ein neues, verborgenes Regal frei. Ein kleines Buch mit einer Eisschicht hob sich neben den anderen Werken ab. Diese Schicht wurde von einem Krebs ausgeführt, ohne Zweifel. Bei Fische, wenn er seine Kräfte benutzte, war es heller und bei Skorpion war es dicker. Es war wie die Signatur eines Krebses.
Sobald sie es berührte, verschwanden die Kristalle um den Einband herum. War sie als Einzige in der Lage, es aufzulösen? Als hätte es ein Eigenleben, pulsierte das Eis in ihren Händen und verschmolz mit ihr. Sie blätterte darin. Es war wie ein Tagebuch. Die Buchstaben setzten sich aus Wasser zusammen. Definitiv war es einer ihrer Artgenossen. Nur sie konnte das Wirrwarr lesen.
»Was steht denn da, Krebs?«
Cana schluckte, während sie las: »Befreie den Schlangenträger von seiner Bürde. Er hat genug gelitten. Genug Kameraden töten müssen. Genug gesehen. Genug urteilen müssen. Es gibt einen Weg, sie alle zu retten, ohne dass du sterben musst. Leider habe ich nicht in Erfahrung bringen können, wie. Bitte, schaffe wenigstens du es, den Kreislauf zu durchbrechen.«
Über Generationen hinweg schrieben ihre Vorgänger in dem kleinen Buch rein. Einige von ihnen erfuhren mehr, andere weniger, aber sie alle teilten ihre Erfahrungen mit ihr. Mit ihrer eigenen Kraft schrieb sie, dass es Krieg zwischen den Sternzeichen geben würde und dann versiegelte sie es mit einer Eisschicht. Sie stellte es an Ort und Stelle, falls sie noch einmal in Ruhe darin lesen wollte. Auch sie platzierte eine leichte Wasserspiegelung an diesem Ort, damit keinem dieser Regal auffiel.
»Cana, was bedeuten –«
»Was macht ihr hier?«
Beide drehten hektisch den Kopf um. Ari stand in der Tür. Er trug eine Schürze und wippte mit dem Fuß auf und ab, während er eine Hand in der Hüfte stemmte. Er wirkte nicht begeistert, sie hier anzutreffen. In seinen Augen glühte das Feuer.
»Du machst nichts als Ärger. Sieh dir das Chaos hier an!« Ehe sie wegrennen konnten, schnappte er nach ihrem Kragen. Das Gleiche auch bei Fische. Er trug sie mit Leichtigkeit, als wären sie lediglich Einkaufstüten.
»Äh«, machte Cana.
»Ähm«, kam es von Pisan. »Nichts?«
»Nach nichts sieht das nicht aus!«
Cana und Fische verstummten.
Wie schaffte es Widder, trotz seiner ganzen Aufgaben, ein Auge auf sie zu haben? Wenn dieses Sternzeichen ein Ziel hatte, meisterte Widder es jedes Mal. Bewundert betrachtete Cana ihn, als ihr das klar wurde.
Wäre er in meiner Lage, würde er wahrscheinlich mehr Erfolg haben als ich …
Als er mit ihnen um die Ecke bog, trafen sie auf Steinbock. Dieser wirkte in seiner Traumwelt. Sobald er Ari sah, wurde er hellwach und stand stramm da. Sein Blick fiel schweigend auf Cana, die lächelnd ihm zuwinkte.
»Du kümmerst dich gerne um die Göre«, begann Ari, während er Steinbock in die Augen schaute. »Dann sorge dafür, dass sie keinen Blödsinn verzapft.« Als seien sie Ware, überreichte er sie Capyo, der sie annahm ohne ein Wort zu äußern.
»Als hätte ich nicht genug zu tun!«
Heute war Ari für das Essen zuständig. Jedes Jahr um die Zeit machten sie einen Lagerfeuer, wo sie ihre Wünsche in einer Laterne packten und sie fliegen ließen. Ein Ritual, das sich einbürgerte, nachdem sie es einmal aus Spaß angefangen hatten.
»Ari?«
Er drehte sich zu ihr um. »Was?«
»Danke.« Sie grinste, obwohl er beißend zu ihr war. »Eigentlich passt du nur auf uns alle auf, dass uns nichts Schlimmes passiert. Um Löwe Arbeit abzunehmen, oder? Auch, wenn du dauernd schlecht gelaunt bist, meinst du das nicht böse, nicht wahr?«
Eine Weile blinzelte er verdutzt, bis er zerknirscht dreinschaute. »Halte deine Klappe, du Göre.«
Sie saßen auf Bänken, die in einem Viereck zueinander waren, wodurch jeder einen Sitzplatz besaß. Überall um sie herum standen Schüssel mit Salate und andere Gerichte.
Jeder hielt einen Spieß in der Hand, der im Feuer brutzelte. Fisches Augen leuchteten, während er beobachtete, wie seine Würstchen brauner wurden.
Wie süß er immer sein kann …
Als sie sich an die Umarmung zurückerinnerte, suchten die Emotionen sie heim und ihr Schmunzeln brach ab. Sie schüttelte den Kopf, was Fische dazu brachte, sie anzusehen.
»Alles okay?«
»Ähm, ja … ja, ja, alles gut.«
Sie biss sich auf die Lippe und unterdrückte das Bedürfnis, ihn hier und jetzt zu knuddeln.
Schützte wirkte unterstimuliert, so wie er abermals schnaubte. Er war nur hier, weil es eine Pflichtveranstaltung war. Selbst ein Befehl hätte ihn nicht dazu gebracht, wenn Waage nicht auf ihn eingeredet hätte, zu bleiben. Wassermann und Zwillinge fütterten sich gegenseitig. Sobald sie bemerkten, dass Cana zu ihnen schauten, küssten sie sich leidenschaftlich, nur um ihre Reaktion zu sehen. Wie gewohnt schaute sie rot angelaufen zur Seite. Als Fische ihr Blick wieder auffing, glühte sie noch ein Stück mehr. Noch einmal schüttelte sie den Kopf. Die Emotionen waren ihr definitiv neu und kamen wie aus dem Nichts.
Jungfrau lehnte den Kopf an Skorpions Schulter und setzte die Hand auf seinem Bein ab. Das brachte Pixo zum Lächeln. Selten erblickte man einen weichen Ausdruck in seinem Gesicht. Nur Vir schaffte es. Zufällig erkannte Cana, dass Stier zu ihr schielte. Als sie den Blick erwiderte, blickte er zum Feuer. Steinbock, der zwischen ihr und ihm saß, tat das Gleiche in Aris Richtung.
»Du bist so wunderschön«, offenbarte Widder seinem Seelenverwandten. »Heute besonders.«
»Wann bin ich das denn nicht?« Er grinste und drückte Ari einen Moment lang an sich, während er auflachte.
Schütze rollte mit den Augen. Mit einem Fingerschnippen verkohlte die Spitze an Aris Spieß. »Ups.«
»Was soll das?«
»Röstaromen. Die sollen gut schmecken.«
Ehe Widder aufstand und auf ihn losging, stand Waage auf und hob beschwichtigend die Hände vor dem Gesicht. »Wir wollen uns doch nicht an so einer Nacht streiten, oder? Schaut wie schön die Sterne sind.«
»Sage das mal deiner Dramaqueen«, witzelte Zwillinge. »Und seien wir mal ehrlich, Lims, du stehst doch insgeheim darauf, dass Riam für Feuer sorgt.«
»Aber nein, ich –«
»Ach, und wieso hast du ihn dann nicht besser unter Kontrolle?«
Wassermann kicherte und nickte, als Zwillinge sich zu ihm umdrehte. Das drängte ihn dazu, mit den Neckereien weiterzumachen.
»Ruhe jetzt.«
Zwei Worte von Liony und plötzlich waren alle still. Es klang nicht nach einer Bedrohung und dennoch zitterte Cana leicht. Manchmal bekam sie es mit der Furcht zu tun, wenn sie überlegte, wie viel Macht er ihnen gegenüber besaß.
Verging jemals dieses Ritual stressfrei? Cana konnte sich an kein einziges Mal erinnern. Schütze war derjenige, der sich jedes Mal etwas vor Langeweile überlegte, um die Nacht actionlastiger zu gestalten. Da Widder zu schnell reizbar war, war er meistens sein Opfer. Statt dass Zwillinge Waage unterstützte, verschlimmerte er es.
Sie seufzte laut. »Warum müssen wir überhaupt essen? Das ist etwas, das ich niemals begreifen werde. Wir sind keine Menschen und doch brauchen wir wie sie Nahrung. Eigentlich sind wir unsterblich.«
»Unsterblich sind wir mit Garantie nicht«, sprach Löwe als Erster. Er zog mit den Zähnen ein Stück Pilz von seinem Spieß ab, obwohl dieser noch vom Feuer glühte. »Alles nur ein Mythos.«
»Aber –«
»Wir geben unsere Energie an Menschen ab«, unterbrach Ari sie. »Wenn wir ihnen nicht so ähnlich wären, würde sie nicht kompatibel mit ihnen sein. Ihr Körper würde unsere Energie wie ein Fremdkörper abstoßen, obwohl er sie braucht, um zu leben. Je ähnlicher wir ihnen sind, desto besser für sie.«
»Und was springt hierbei für uns heraus?«, fragte Wassermann und schaute Schütze lächelnd an. »Das denkst du doch gerade, richtig?«
»Ganz genau.« Sein Blick wurde düsterer. »Was geben die Menschen uns zurück? Viele von ihnen glauben nicht einmal an uns.«
»Aber das müssen sie ja nicht, Riam«, bemühte sich Waage, die Diskussion im Keim zu ersticken. Er wirkte überfordert, wie er zwischen ihnen alle hin und her schaute, um einen Konflikt zu verhindern. »Sollen wir mit dem Spaß anfangen? Ja? Ja?«
Alle nahmen ihre Laterne und steckten den Wunschzettel im Inneren. Die Feuer- und Luftzeichen setzten ihre Kräfte ein, damit die Laternen leuchteten und in den Himmel aufstiegen. Während Cana den Kopf in den Nacken steckte, fragte sie sich, was sich die anderen aus tiefstem Herzen wünschten.
»Ich wünsche mir, dass meine Familie gesund und glücklich bleibt«, plapperte sie versehentlich ihren Gedanken aus.
Die Laternen erhellten den Himmel. Sie musste schlucken. Irgendwie bekam sie einen Kloß im Hals. Fische schien es zu bemerken, denn er umklammerte ihren Arm und schmiegte sich dicht an ihr.
Cana spürte eine leichte Vibration unter ihren Füßen. Zunächst hielt sie es für eine Einbildung, aber das Gefühl brach nicht ab. Während die anderen den Himmel betrachteten und an ihre Wünsche hingen, schaute sie herab. Auf dem Boden erschien eine Pfütze. Die Wassertropfen bewegten sich und hinterließen eine Spur in der Erde.
Es stand geschrieben: »Willst du mehr erfahren?«
Mehr?
Sie hob den Kopf. Skorpion beobachtete sie.