Cana wollte sich aus dem Haus schleichen.
»Wohin des Weges?«
Wie ein undurchdringbarer hoher und breiter Schrank stand Löwe hinter ihr. Warum musste sie ausgerechnet ihm begegnen? Es war kein Tag mehr. Auch der Abend verabschiedete sich nach und nach. Die Ausrede, dass sie einkaufen möchte, funktionierte an dieser Stelle nicht.
»Ein … bisschen raus gehen, schätze ich.«
»Mit dieser Vogelscheuche-Frisur?«
Sie berührte einer ihrer Haarspitzen. »Häh? Meine was …?«
Unrecht hatte er nicht. Es war, als hätte sie einen Stromschlag hinter sich. Sobald sie aus dem Wasser kam, trockneten sie schnell in der Luft, aber der Preis war ein Berg von Haaren, der nicht leicht zu bändigen war.
Seine Finger schlossen sich um ihr Handgelenk. Direkt zog er sie mit sich mit, bis sie auf dem Sofa saßen. Er war hinter ihr. Mit den Fingern ging er durch ihr Haar und befreite sie von einigen entstandenen Knoten. Dass keine Moralpredigt folgte, war ungewöhnlich für ihn.
Wo bleibt das Kritisieren, Liony? 3 … 2 … 1 … und –
»Die Außenwirkung ist enorm wichtig. Krebs.«
Sie freute sich zu früh, einer Standpauke entkommen zu sein. Wenn Löwe in einer Sache ein Experte war, dann war es, Personen auf ihre Fehler aufmerksam zu machen. Es war, als verglühte er innerlich, wenn er seine Meinung für sich behielt.
»Manno, Liony. Ich gehe doch nicht auf eine Mode Show. Mich sieht bestimmt eh keiner.«
Widerwillig ließ sie ihn machen. Ihm war es besonders wichtig, dass man gut aussah, egal zu welcher Tagesform. Er bemängelte vieles an dem Erscheinungsbild seines Gegenübers, noch ehe sie einen Atemzug machten. Es gab mal eine Zeit, in der er mit keinem der Sternzeichen sprach, solange nicht, bis sie sich besser gekleidet hatten. Als würde seine Schönheit dadurch einen Abbruch erleiden, wenn man den gleichen Raum mit ihm teilte.
»Krebs … der stärkste Sinn ist und bleibt das Sehen. Verstehst du? Wir lassen uns davon beeinflussen. Manipulieren. Lenken. Dieser Sinn dominiert über alle anderen. Ich habe es dir schon mehrmals gesagt, achte auf dein Äußeres, ehe du das Haus verlässt. Beschäme uns nicht.«
Sie seufzte lang. Sein harter Tonfall traf sie jedes Mal mitten im Herzen. Warum bekam sie das Gefühl, als geriet sie öfter in seinem Sichtfeld, wenn es um das Thema ging? Sie zischte, als er einen kniffligen Knoten erwischte. Die Kopfhaut reagierte darauf.
»Du denkst, es macht mir Spaß, oder?«
»Hm?«
Liony flocht ihre Haare und verstummte. Sie wagte es, den Kopf in den Nacken zu legen, um in seinen Augen zu schauen. Kurzzeitig flackerte etwas Verletzliches auf oder bildete sie es sich ein? Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber behielt es für sich. Das letzte Mal, wo sie ihn für etwas kritisierte, durfte sie sich einen Spruch nach dem anderen anhören.
In diesem Riesenkörper schlägt dann doch ein sensibles Herz, oder?
Sie schmunzelte.
»Ein Anführer zu sein, meine ich«, erklärte er und schob ihren Kopf nach vorne, damit ihr Augenkontakt abbrach. »Du denkst wie alle anderen, es fällt mir leicht. Die Übersicht zu behalten. Diese ganzen unterschiedlichen Gemüter unter einem Dach unter Kontrolle zu behalten. Stark zu bleiben, wenn etwas schief läuft. Und, und, und. Doch … dem ist nicht so. Zwar bin ich nicht so fehlerhaft wie ihr alle, aber … ich hasse es, diese Unsicherheiten in mir. Widder schafft es als Einziger, mir diese für ein paar Minuten zu nehmen.«
Was passiert hier gerade? Liony – unser Liony! – gibt freiwillig zu, dass er eine Schwäche hat? Vor mir? Träume ich? Besser ich halte still. Atme nicht mehr, Krebs. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er seine Selbstkritik als meine Kritik umwandelt, obwohl ich kein Ton gesagt habe …
»Äh, du bist heute so komisch, Liony. Findest du dich etwa nicht mehr so fabelhaft wie sonst immer?«, rutschte es ihr aus.
Mit jeder Minute, die verstrich, bekam sie das Bedürfnis, ihn zu umarmen. Auch er brauchte mal Lob und Trost, oder? Sie verzog den Mund und senkte die Schultern. Warum dachte sie nicht früher darüber nach?
Irgendwie tut er mir jetzt leid … er hat ja recht! Er trägt so viel Verantwortung. Haben wir uns jemals dafür bedankt?
»Dass du das überhaupt fragen musst. Natürlich bin ich der Beste! Ihr könnt froh sein, mich zu haben. Wer außer mir könnte dieser Aufgabe schon gewachsen sein. Man merkt, du bist noch ein Kind, denn du begreifst rein gar nichts, kleine Göre.«
Sie verdrehte die Augen. Schon wieder freute sie sich zu früh.
»Das war jetzt unnötig und fies, Liony.«
Mit einer bestimmten Technik band er ihre Haare zusammen, ohne ein Haargummi benutzen zu müssen. Sich noch nicht im Spiegel gesehen, wusste sie dennoch, dass er eine gute Frisur hinbekommen hatte.
»Sag, Krebs … hast du glückliche und unbeschwerte Jahre gelebt?«
Ein Stich durchfuhr ihr Herz. Ruckartig drehte sie sich um. Ihre Augen waren stark geweitet. »Was? Warum fragst du so was … auf einmal?«
Beide vertieften den Kontakt und rührten sich eine Weile nicht. Sie schluckte. Die Atmosphäre verdüsterte sich. Möglicherweise träumte sie ja wirklich. So etwas sagte Löwe noch nie zu ihr! Warum passierten in letzter Zeit merkwürdige Dinge in ihrem Leben? Alles fing damit an, seitdem sie zufällig über die Existenz des 13. Sternzeichens erfuhr.
Auf einmal hob er die Hand und setzte sie auf ihren Kopf ab. Er krallte sich dort fest, als wollte er ihren Schädel zusammenpressen, aber außer einem leichten Druck war nichts zu spüren.
»Nimm wenigstens jemanden mit, wenn du raus gehst.«
»Hallo?« Sie blies die Wangen auf und stemmte die Hände in den Seiten. »Ich bin kein kleines Kind mehr. Ich beherrsche mein Element mittlerweile bestens und kann super gut kämpf –«
»Ich kann sie begleiten.«
Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als diese Stimme ertönte. Steinbock stand in der Tür. Stocksteif. Die Hände in den Jackentaschen. Er schaute nicht zu ihnen, sondern starrte den Fußboden an.
»Alles klar«, meinte Löwe. »Du bist eine gute Wahl. Du bist loyal. So brauche ich mir keine Gedanken machen, dass Krebs Dummheiten macht.«
»Ey!«
»Na los, geht.«
Steinbock und Cana gingen nebeneinanderher.
Eigentlich war ihr Grund nach draußen zu gehen, den Schlangenträger zu besuchen. Sie war kein Stück weitergekommen. Stattdessen bekam sie mehr Fragen. Vielleicht kannte er ein paar Antworten auf ihre Fragen. Gleichzeitig konnte sie ihn besser kennenlernen und dazu bringen, seine Umgebung zu verlassen und mit ihnen zu leben.
Doch wenn Capyo dabei war, konnte sie sich nichts dergleichen erlauben. Mit Fische sähe die Sache anders aus.
»Ich bin loyal, das stimmt«, beendete er die Stille zwischen ihnen. Er hielt an, also tat sie es ihm nach. Der Wind brachte ihre Jacke und Haare zum Flattern. »Aber ich entscheide immer noch selbst, wem ich gegenüber loyal sein will. Und das ist nicht Liony sondern du.«
Kurzweilig ging ihr das Herz auf. Sie grinste, bis sie aufs Neue grimmig dreinschaute, als die Erinnerungen zurückkehrten. »Warte, stopp mal! Ich bin eigentlich wütend auf dich und habe das nur kurz vergessen. Bringe mich also nicht zum Lachen und löse bloß kein Bauchkribbeln in mir aus, du Doofmann. Ich bin noch nicht fertig mit böse auf dich zu sein. Pah.«
»Es tut mir leid.«
»Nein, immer noch nicht fertig –«
»Cana.«
Sie brach das Schmollen ab, als sie die Ernsthaftigkeit in seiner Stimme heraushörte. Was war denn auf einmal los?
»Ich weiß, es war nicht fair«, teilte er ihr mit. »Ich dachte, wenn ich dieses Mal alles vor dir verheimliche, dann passiert dieses Mal nichts. Es … also das … ach, mit deinen männlichen Vorgänger hatte ich es einfacher.«
Was? Es gab nicht nur weibliche Krebse? Das erfahre ich auch einfach so nebenbei? Mann, warum wissen alle mehr über mich als ich über sie? Ungerecht!
»Dieses Mal nichts?«, wiederholte sie leise.
Ihre Augen wanderten. Vom Boden zur Seite, dann zu ihm. Anschließend ein weiteres Mal auf ihre Füße. Das Bedürfnis nach einer kleinen Ablenkung, wie an ihrem Ärmel zu fummeln, wuchs und wuchs. Stattdessen kratzte sie sich am Kopf, obwohl kein Juckreiz herrschte.
»Dass ich sterbe meinst du, richtig?«
Schweigen. Noch einmal schaute sie zu ihm hoch. Dort in seinem Gesicht war eine Mischung aus Schock und bittere Erkenntnis zu erkennen.
Volltreffer, was?
Weitere Fragen in dieser Richtung waren nicht nötig.
»Du willst zum 13. Sternzeichen, nicht wahr?«
Sie zögerte. Möglicherweise war er doch Lionys Aufpasser und erschlich sich ihr Vertrauen. Innerlich schüttelte sie die Gedanken ab. Wie kam sie auf die misstrauische Idee? Ihre Familie stand hinter ihr, ganz gleich wie oft sie sich mit einigen von ihnen in die Haare kriegte. Sie lebten zusammen, teilten alles miteinander und verfolgten das gleiche Ziel: dem Menschen ein Leben zu ermöglichen, indem sie auf ein Teil ihrer Energie verzichteten.
»Ja, das will ich. Es ist okay für mich, wenn du jetzt gehen –«
»Wie gesagt, ich kann nicht anders. Von Grund auf bin ich loyal, selbst wenn ich mich dadurch in Gefahr begebe. Ich komme mit dir.«