»Verdammt. Verdammt.« Pisan schlug weitere Male auf das Eis ein. Er krümmte sich, als bekäme er Bauchschmerzen. Mit jedem Schlag wurde die Intensität schwächer und die Energie wich aus ihm. Irgendwann berührte er die Fesseln, ohne Widerstand. »Ich schaffe es nicht. Ich schaffe es einfach nicht.«
»Das ist okay. Ich mache dir keinen Vorwurf.«
Er schüttelte den Kopf. »Nichts ist okay. Ich bin nicht stark genug.«
»Hey, Fische, du weißt, dass das nicht stimmt. Bestrafe dich nicht –«
»Jeder andere an meiner Stelle hätte dich besser beschützen können als ich. Ich bin ein Schwächling, egal wie sehr ich trainiere.«
Seine dicken Tränen landeten erbarmungslos auf ihrem Gesicht. Tropf, tropf, tropf. Sie summierten sich, bis sie von ihren Wangen herunterglitten, als wären sie ihre eigene Tränen. Er biss die Zähne zusammen, aber das Wasser in seinen Augen blieb erhalten.
Eine Hand zuckte. Nie war das Verlangen, ihn zu berühren, derart groß wie heute. Insbesondere dadurch, dass ihre Worte ihn nicht erreichten. Wie elektrisiert konnte sie den Blick nicht abwenden.
»Unfehlbar«, hauchte sie. Die Schönheit in seinen Augen fesselte sie. »Das Wasser gehört eindeutig zu dir, wie niemanden anderen sonst. Das spiegeln deine Augen wider. Wie wunderschön sie sind. Warum fällt es mir erst jetzt so stark auf?«
»Cana, ich meine es ernst …«
Zwar kullerten ein paar Tränen noch, aber er verzog das Gesicht nicht mehr. Stattdessen blickte er sie an, als würde sie eine andere Sprache sprechen.
»Ich weiß doch. Ich weiß.«
Sie räusperte sich, um den Kloß im Hals zu verlieren. Anschließend nahm sie den Schlangenträger in Visier. Seitdem er die Luftzeichen weggeschleudert hatte, blieben sie regungslos auf dem Schnee liegen. Spielten sie es ihm vor, um überraschend anzugreifen oder war seine Macht zu überwältigend? Sie hoffte darauf, dass sie atmeten.
»Worauf wartest du eigentlich, Asklepios?«
»Darauf, dass der erste Sonnenstrahl erscheint.«
Oho, er kann ja doch sprechen …
»Dann tötest du mich?«
Er schaute zu ihr herab. »Ich werde demjenigen, der sich nach der Nacht auf der inneren Plattform befindet, die Energie absaugen und sie auf alle anderen aufteilen. So wie immer.«
»Meinst du diesen Kreis, worauf ich festgenagelt bin? Das heißt, egal, wer hier ist, dieser ist der Verurteilte, ja? Was hat es mit den Symbolen um die innere Plattform herum auf sich?«
»Die Sternzeichen müssen mir ein klares Zeichen geben, für wen sie sich entschieden haben. Sobald sie auf einem ihrer Symbole gegangen sind, haben sie ihre Entscheidung unwiderruflich getroffen und können nicht mehr heraus.«
»Und wenn keiner sich opfern will?«
Er blinzelte. »Dann werde ich zufällig jemanden auswählen.«
»Und was ist, wenn es eine andere Möglichkeit gibt?«, hakte sie nach. Keine Reaktion. Es war, als unterhielt sie sich mit einer Statue. Seine Augen wanderten wie zuvor zum Mond.
Ich muss ihn zum Weiterreden bringen – na los!
»Schlangenträger? Weißt du, wenn ich dich anschaue, sehe ich eine unendliche Traurigkeit in deinen Augen. Ich glaube, du bereust etwas, nicht wahr?«
Wie gewollt, blickte er zu ihr herab. Hatte sie sein Interesse geweckt?
»Höre mal«, setzte sie an, »ich weiß, dass ich nicht die Ruhe und Geduld von Steinbock besitze. Ja, ich kann nicht so zuverlässig und standfest wie Stier sein. Mir fehlt der Mut, den Widder ausmacht. Gleichermaßen fällt es mir schwer, so optimistisch wie Waage zu bleiben. Wie Schütze unaufhaltsam zu seinen Überzeugungen steht und darum kämpft, ist beeindruckend und keine leichte Aufgabe. Löwes Charisma und genauso sein vorausschauendes Denken habe ich nicht. Ich kann nicht so entspannt wie Wassermann oder so scharfsinnig wie Zwillinge sein. Jungfraus Drang nach Perfektion, Sachlichkeit oder Ordnung liegen mir ebenso nicht. Skorpions Zielstrebigkeit und instinktive Ader werde ich niemals erreichen, das ist klar. Und Fisches Güte, Unterstützung und Einfühlsamkeit sind einfach Zucker. Aber weißt du, was?«
Sie grinste breit. »Dafür ist keiner zu kreativ wie der Krebs. Und ich verspreche dir, wenn du mir die Chance gibst, werde ich eine Lösung finden, mit denen wir alle gleichermaßen zufrieden sind. Okay?«
»Cana, was glaubst du eigentlich, wer ich bin?«
Was …?
Sie schaute verdutzt. Diese Frage überrumpelte sie.
»Na, du bist das dreizehnte Sternzeichen, oder etwa nicht? Du bist ein bisschen anders, aber –« Sie bremste sich, als sie einen Schatten auf sich spürte. Liony näherte sich ihr.
Was möchte er auf einmal … hier?
»Cana.«
Sie schluckte den Kloß, der mit seiner Anwesenheit entstand, herunter. Fische lehnte sich direkt schützend näher an sie heran.
»J-ja?«
»Du solltest wissen, dass wir nichts per se gegen dich haben.«
Na ja, wenn ich mir Pixo ansehe, wäre ich mir nicht so sicher …
»Aber einer muss sich opfern. So will es die Welt.«
»Warum muss es Cana sein?«, warf Fische ein. Er biss sich auf die Unterlippe. Die Wimpern wurden feuchter.
Liony bedachte ihn mit einem kurzen Blick. Anschließend galt seine volle Aufmerksamkeit ihr. »In der Vergangenheit hat es sich gezeigt, dass – warum auch immer – der Krebs eine immense Widerstandsfähigkeit besitzt. Nach dem Tod wurde sie schneller wieder geboren. Bei allen anderen Sternzeichen ist es nicht auf dieser Weise geprägt.«
Im Hintergrund merkte sie am Rande, wie Schütze weiterhin gegen das Eis kämpfte, um herauszubrechen. Es schien, als machte jedes Wort, das aus Löwes Mund kam, ihn rasender.
Derweil kamen Pixo und Vir ordentlich zum Keuchen, während die beiden Erdzeichen eine Menge Energiereserven zu haben schienen. Jungfrau kam mit dem Heilen nicht hinterher. Der Wald stellte sich gegen ihn und schien lediglich auf Stier und Steinbock zu hören. Mithilfe der Kommunikation des Waldes konnten sie Attacken besser ausweichen. Stier ließ die Grashalme stärker und größer wachsen, die sich um Virs Fußgelenke wickelten. Er kippte um, als er eine Attacke auf Capyo startete.
Die Wunde an Pixos Schulter ging wieder auf und vergrößerte sich. Sobald Skorpion Wasser einsetzte, saugte Steinbock die Flüssigkeit auf und kombinierte es mit der Erde, sodass Caypo seinen Gegner mit Schlamm überzog und kurzzeitig die Sicht nahm.
Obwohl seine Konzentration durch die Erdzeichen immens beansprucht wurde, schaffte er es problemlos die Eisfesseln aufrechtzuerhalten.
»Das ist kein Grund, dass«, begann Fische kleinlaut, nahm tief Luft und erhob die Stimme etwas, als wollte er sich Löwe behaupten wollen, »dass sie sterben muss.« Ein Schluchzen drang aus ihm heraus.
»Als Anführer muss ich schauen, was das Beste für das Gemeinwohl ist und nicht für jeden Einzelnen. Nimm es mir nicht persönlich, Cana. Du tust mit deinem Opfern etwas Gutes.«
Mit anderen Worten hilft er mir nicht … er sieht lieber zu, dass ich sterbe, damit es allen anderen besser geht? Versucht er mich gerade zu manipulieren?
Nochmals schluckte sie. Der Widerstand im Rachen wurde kratzig.
Aber wenn ich aufgebe, müssten die Sternzeichen nicht kämpfen … dann wäre doch alles besser als jetzt.
»So wie Cana es sagt, muss es eine andere Lösung geben. Alte Traditionen muss man immer hinterfragen, oder nicht?«
Sie drehte das Gesicht in die Richtung ihres Seelenverwandten um. Ihr Herz machte einen großen Sprung. Allmählich war sie diejenige, die Tränen in den Augen bekam. Die Tatsache, in welche Situation sie ihren Gefährten mit ihrem Tod beförderte, war keine schöne Vorstellung.
Wird er damit klarkommen, irgendwann? Wenn ich keinen Widerstand mehr leiste, ist das wirklich besser?
»Er wird wieder geboren, mein Ehrenwort«, hörte sie Löwe sagen. Die Wärme, die er in der Nähe ihres Gesicht verursachte, trocknete ihr Wasser. Sofort verdunstete es als Dampf hinfort.
»Was?« Sie blickte Löwe direkt an. Ihre Stimme bebte.
»Sobald diese Nacht vorbei ist, löscht der Schlangenträger die Erinnerungen aus. Nur bei denen, die sich ausdrücklich dagegen entscheiden, behalten ihr Gedächtnis. Zwar verliert Fische seine Erinnerungen, weil ein winziger Teil im Unterbewusstsein existiert, der all das vergessen will, aber nichtsdestotrotz hält er es ohne dich nicht länger aus. Daher verausgabt er sich jedes Mal, bis er in kurzer Zeit in seiner Saison stirbt. Aber es ist okay, er wird nicht so schnell wie du, aber immerhin jedes Mal wiedergeboren.«
Soll mich das etwa trösten?
Sie schaut Fische an, der ihr Blick auffängt. War es egoistisch von ihr, wenn sie nicht sterben wollte? Es schien eine Garantie zu geben, dass sie reinkarnierten.
Es könnte so schnell vorbei sein, wenn ich einfach loslasse, oder? So haben meine Vorgänger am Ende auch entschieden. So ist es doch, oder?
»Nein!«
Schütze schlug lautstark mit der Faust gegen das Eis. Seine brüllende Stimme holte sie aus ihrer Starre heraus.
Waage setzte sein Tornado ein und verstärkte damit das Feuer im Inneren. Irritiert drehte Schütze sich zu ihm um.
Lims schaute ihn lächelnd an und hob seinen Daumen. »Du weißt doch, ich stehe immer hinter dir.«
Mit seiner Kraft gelang es Schütze herauszubrechen. Er lief direkt auf sie zu. Was hatte er vor? Gegen Löwe kämpfen?
Liony entfernte sich nicht vom Fleck. Ari nutzte Waages Unaufmerksamkeit und hüllte ihn mit einer Feuermauer ein. Ein Schritt weiter und er würde sich verbrennen. »An deiner Stelle würde ich den Ball ganz flach halten, Schütze. Willst du, dass Lims etwas passiert, he?«
Schütze stand direkt vor Löwe. Seine Hand glühte vom Feuer. »Lims weiß, dass er mir von allen am wichtigsten ist. Auch weiß er, dass es nichts Persönliches gegen ihn oder unsere Beziehung ist.«
Waage errötete plötzlich. Obwohl Schütze ihn nicht ansah, nickte er zustimmend.
»Wovon sprichst du, Riam?«, hakte Löwe unbeeindruckt nach.
»Niemand«, begann Schütze, »raubt mir meine uneingeschränkte Freiheit.« Mit vollster Wucht schlug er in Lionys Gesicht. Er flog einige Meter von ihnen weg und nahm ein Stück Erde mit sich mit. Ari, der mit aufgerissenen Augen zu seinem Gefährten stürmte, konnte das Feuer um Waage nicht länger aufrecht erhalten.
Oh nein! Das hat er nicht getan, oder? Er hat Liony geschlagen?
»So, und nun zu dir«, widmete Schütze sich ihr und versuchte mithilfe von Waages Wind ihre Eisfesseln zu lösen. Tatsächlich gelang es ihm besser als vorhin. Er verengte die Augen zu Schlitzen. Sein Blick verfinsterte sich. »Ich habe es dir schon einmal gesagt, dein Leben ist wichtiger. Gib es wegen einer Familie nicht auf. Denke mehr an dich selbst!«
In ihrer Nase kribbelte es. Sie war nicht fähig zu sprechen. Sobald sie anfing, wurde die Stimme brüchig. Nicht einmal für ein Dankeschön konnte sie sich überwinden.
»Hast du verstanden, du Dummschädel?«
Sie nickte.
Es fehlte nicht viel zu ihrer Befreiung, bis die Umgebung nach einem Wimpernschlag sich veränderte. Sie waren alle unter Wasser. Sie schielte direkt zum Schlangenträger. Hatte er etwa …?
Sie sank tiefer, da sie noch am Stein klebte. Fische gab sein Bestes, sie hochzuziehen, aber der Brocken war mit dem äußeren Kreis zu schwer. Neben ihr sanken die Luftzeichen nach unten. Abrupt erschuf sie eine Luftblase um beide herum, damit sie nicht ertranken.
Steinbock und Stier trieben Skorpion und Jungfrau dermaßen in die Enge, dass ihre Wunden tief waren. Jetzt, unter Wasser verloren sie ihren Vorteil. Cana war zu weit von ihnen entfernt, um ihnen eine Luftblase zu erschaffen. Löwe, Widder und Jungfrau besaßen eine von Skorpion und schwammen mittig im Ozean.
Kaum waren sie im Meer verheilten Pixos Wunden schneller. Es fühlte sich wie ein Reset an. Alles zurück auf Null.
Aber die Luft würde für die Erdzeichen knapp werden.