Sie kamen an.
Kein unheimliches Haus war in Sicht. Zwar war der bläuliche Nebel noch vorhanden und es war der gleiche Ort, wo sie mit Pisan gewesen war, aber doch wirkte es fremder als zuvor. Sie konnten sich unmöglich verlaufen haben! Wo war das abgesperrte Haus mit dem Loch? Der Platz war leer, als hätte man das Gebäude komplett entfernt.
»Es war … doch hier«, hauchte sie. Ein paar Schritte ging sie nach vorne. Spielten ihre Augen ihr einen Streich?
Schweigsam folgte Steinbock ihr.
»Ich bin mir sicher, dass es hier war. Capyo, du musst mir glauben.«
Sie starrte auf dem Boden. Hier wuchs bereits Gras. Bedeutete es, dass das Gebäude tatsächlich entfernt worden war, um etwas Neues zu bauen? Von wem? Von Menschen? War ihnen klar, wer hier lebte?
»Illusionen.«
»Was?«
Sie blinzelten sich an.
»Der Schlangenträger hat das Element Finsternis inne, Cana. Er kann mit dem Geist seines Gegenübers spielen. Wenn er will, ist hier kein Gebäude. Wenn ihm der Sinn danach steht, wird hier ein Berg stehen. Verstehst du? Vertraue deinen Sinnen nicht, wenn du es mit ihm zu tun hast. Er ist stärker als wir alle.«
Das vom letzten Mal mit Fische war wie ein Traum … will er mir das verklickern? Dass Fische und ich auf eine Fantasie hereingefallen sind?
»Warum tut er das bloß? Er ist doch kein böses Sternzeichen, oder? Beim letzten Mal war es einfacher, ihn –«
Steinbock drehte den Kopf um und starrte in die Ferne, als wäre er auf der Suche nach etwas. »Hm. Vielleicht möchte er dieses Mal nicht so leicht von dir gefunden werden.«
»Aber warum?« Sie wurde lauter. »Das verstehe ich nicht! Will er denn nicht zu uns gehören? Ich will ihm doch nur etwas Gutes tun. Warum begreift er das nicht? Diese Abgrenzung vereinsamt ihn bald.«
Sie schnaubte. Da sie keine Antwort von Steinbock erhielt, wandte sie sich ab. Irgendwie musste sie zum dreizehnten Sternzeichen gelangen. Irgendwie. Jetzt, wo er die Suche von sich aus erschwerte, war sie sich sicher, dass er etwas wusste und vor ihr geheim halten wollte. Nicht umsonst ging er in eine freiwillige Isolation.
In der Mitte der Fläche gehend, drehte sie sich um die eigene Achse. All das war eine reine Illusion? Befanden sie sich mitten in einer? War das der Grund, warum sie keine vorbeigehende Menschen entdecken konnte? Obwohl es mitten in der Nacht war, traf man vereinzelt auf Menschen. Nur nicht an diesem Ort.
»Asklepios!«, schrie sie, während sie mit ihren Händen einen Trichter formte. »Das ist nicht fair! Verstecke dich nicht vor uns. Lasse uns dich besuchen. Bitte!«
Während Cana sich mit den Rufen verausgabte, setzte sich Steinbock irgendwann seufzend in Bewegung. Er steuerte direkt auf sie zu und berührte sie sanft an der Schulter. Sein ruhiger Blick schien sagen zu wollen, dass ihre Versuche, ihn zu sich zu locken, nichts brachte.
»Was soll das nur?«, schmollte sie. »Er gibt mir nicht einmal die Chance, mit ihm zu reden, obwohl mir nicht viel Zeit übrig bleibt. Das ist … also … er ist ein Feigling.«
»Cana …«
»Was denn? Ist doch wahr. Ein Feigling, der sich nicht traut, sich mir zu stell –«
Ihr blieb die Luft weg. Unter ihnen entstand ein Loch. Steinbock und sie fielen. Ehe sie auf dem Boden klatschte, fing etwas Weiches sie auf. Während Steinbock elegant von einem mittelgroßen Baum heruntersprang.
Das Loch über ihnen verschloss sich.
»Danke für die Rettung«, rief sie lächelnd. Mühselig befreite sie sich aus dem Gestrüpp, das Capyo für sie erschuf. Vor lauter Schreck vergaß sie, ihre Kräfte einzusetzen, um sich vor dem Fall zu schützen.
Steinbock näherte sich ihr und befreite ihr Haar von den Blättern. »Offenbar hast du ihn provoziert, dass wir jetzt hier sind.«
»Sieht so aus. Das wollte ich eigentlich nicht.«
»Ja, aber jetzt sind wir eigentlich hier.« Er seufzte.
Sich umschauend, konnte sie wenig erkennen. Seitdem das Loch verschlossen war und sie keinen Weg mehr ins Freie besaßen, verdunkelte es sich drastisch an diesem Ort. Einer der Feuerzeichen hätte ihnen behilflich sein können. Lediglich kleine Laternen leuchteten schwach. Einige flackerten.
Ein Sirren ging durch die Luft. Der Ton wurde lauter. Irgendwann erkannte sie, dass Fledermäuse in ihre Richtung flogen. Ehe sie handeln konnte, schützte Capyo sie, indem er sich auf sie legte und sich gemeinsam mit ihr auf dem Boden kauerte.
»Krieg der Sternzeichen«, schrillten sie.
»Was?«, schrie Cana. »Hörst du das, Steinbock?«
Wie viele flogen denn noch an ihnen vorbei? Der Laut hörte nicht auf. Immerzu wiederholten sie die Worte. Was bedeuteten sie?
»Ja«, krächzte Capyo.
Als es vorbei war, erkannte sie, dass ein Teil seiner Kleidung angegriffen war. Es fehlte nicht viel, dass die Weste am Rücken komplett aufgerissen wäre.
»Oh nein!« Sie berührte ihn dort. In ihrem Mund wurde es staubtrocken. »Das tut mir leid. Tut es sehr weh?«
»Es geht mir gut. Lasse uns weitergehen.«
Immer wieder schielte sie zu der beschädigten Stelle. Inständig hoffte sie, dass seine Haut unversehrt geblieben war. Bloß weil sie zu doof war, schnell zu reagieren. Sie hätte die Fledermäuse einfrieren sollen. Zumindest temporär.
»Was für ein Krieg soll das sein?«, murmelte sie. »Hast du schon einmal etwas darüber gehö – passe auf!« Mit einem Wasserstrahl aus ihren Händen schob sie ihn weit von sich, damit die mehreren spitzen Steine, die sich von der Decke lösten, ihn nicht trafen. Gleichzeitig wich sie zur Seite.
»Danke.« Seine Augen waren geweitet.
»Das war knapp, was?«
Allmählich biss sie die Zähne zusammen. Was hatte Asklepios vor? Sie beide töten? Wenn er ein Problem mit ihr hatte, sollte er Caypo aus dem Spiel lassen. Immerhin hatte er nichts getan außer sie zu begleiten.
Plötzlich erschien eine Treppe zu ihren Füßen. Es waren keine normale Stufen. Sie waren zu einer Spirale verdreht. Ein durchdringendes Wispern ertönte. Es sollte verschwinden.
»Sollen wir es wagen?«
Steinbock stieß einen Seufzer aus. »Haben wir eine andere Wahl?« Er ging den ersten Schritt. Obwohl er kopfüber war, fiel er nicht herunter. Wo blieb die Schwerkraft? Oder waren sie Opfer einer optischen Täuschung?
Zögernd machte sie ihre ersten Schritte. Am liebsten hätte sie Griffe gehabt, damit sie sich im Falle eines Falles festhalten konnte. Ihr wurde schlecht, wenn sie Capyo dabei zuschaute, wie er über ihr war.
Nach und nach erhöhte sich der Klang ihrer Schritte. Ihr schlug das Herz bis zum Hals. Irgendwie bekam sie das Gefühl nicht los, dass jeden Moment etwas passieren würde. Ihre Hände begannen zu zittern. Sie ballte sie zusammen.
Alles wird doch gut, oder? Alles wird gut! Keine Angst, Cana. Du bist ja schließlich nicht alleine.
Am Ende der Stufen war Schwärze. Sie knallte gegen Steinbocks Rücken, da er abrupt anhielt. Vor ihm erschienen zwei nebeneinander fast komplett transparente Stufen, die im leichten Licht schimmerten. Ohne die Reflexion waren die Stufen kaum wahrzunehmen. Nach und nach veränderten sie sich. Es war fast so, als ob sie sich mit der Zeit auflösten.
»Spring!«, rief Capyo.
Ihr Körper gehorchte, bevor sie begriff, was passierte. Sobald ihre Füße die Stufe berührte, verschwand sie. Zögerten sie zu lange, würden sie in die Tiefe landen. Obwohl sie vor lauter Hektik Wasser auftauchen und gefrieren ließ, verschwand es direkt. Selbst Steinbocks Kräfte nutzen ihm an dieser Stelle nicht.
Sie hechelte. Das Adrenalin verdreifachte sich. Wenn sie eine Stufe verfehlte, war das dann ihr … Ende?
Caypo knickte um und fiel. Sich von ihm ablenken lassend, traf sie ins Leere. Beide schrien. Irgendwann hörte sie Steinbocks Laute nicht. War sie tot? Erstarrt atmete sie aus. Sie lag auf einem kalten Boden. Um sie herum entstand ein neuer Raum. Sie erblickte Dunkelgestalten und krabbelte hektisch nach hinten, ohne die Kraft zu haben, aufzustehen.
»Bleibt fern von mir!«, brüllte sie. »Bitte!«
Sie schirmte die Augen mit dem Arm ab, als plötzlich der Raum mit Licht überflutet wurde. Mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen an die Helligkeit. Vor ihr waren im Halbkreis Personen. Beim genaueren Hinsehen erkannte sie sowohl männliche als auch weibliche Personen, die sich ähnelten.
In ihren Augen war eine Traurigkeit zu sehen, die sie mitriss.
»Wer … seid ihr?«
Ihre Umrisse leuchteten, als würden sie aus reinem Licht bestehen. Sie waren unendlich blass. Floss überhaupt Blut durch ihren Adern?
Keiner von ihnen rührte sich. Sie schienen alle im selben Alter zu sein.
»Seid ihr«, begann eine Idee in ihr zu reifen, »etwa Krebse? So wie ich?«
Alle nickten.
»Was macht ihr hier? Solltet ihr nicht in eure Städte oder Länder sein?«
Keine Reaktion.
»Warum redet ihr nicht?« Cana war bemüht, ein Lächeln aufzusetzen. Sie hatte noch nie etwas davon gehört, dass Krebs anderen etwas antaten. Sie brauchte keine Angst vor ihnen zu haben, aber warum hörte die Anspannung nicht auf?
Eine der Krebse wagte einen Schritt aus dem Halbkreis. Sie trug eine Kette. Daran hing der Geburtsstein von Stier. In ihren Augen sammelte sich eine schwarze Flüssigkeit, bis sie an ihre Wange entlanglief.
»Auch du wirst sterben«, murmelte sie.
Cana blinzelte. Jetzt wurde ihr bewusst, wie sie zur Statue geworden war, seitdem ihr Gegenüber sich in Bewegung gesetzt hatte.
»Was?«
»Der Krieg darf nicht stattfinden.«
Cana schluckte. »Wa-was für ein Krieg? Warum bekriegen sich die Sternzeichen überhaupt? Und wo ist Asklepios? Wo bin ich hier überhaupt gelandet?«
» … du wirst es verhindern wollen.«
»Ja, natürlich, aber –«
»Gehe, bevor du stirbst, Cana. Werde nicht zu einer von uns. Lebe.«
Cana presste die Lippen aufeinander. Ihre Nase kribbelte. Ihr war nach weinen zumute. Warum verfolgte sie das Thema Tod in letzter Zeit so oft?
»Ihr … seid alle … tot?«
Alle im Raum nickten.
»Seid ihr alle meine … Vorgänger?«
Wieder ein Nicken.
»Ich will hier raus! Ich will euch retten! Ich –«
Sie zog die Beine ein und setzte das Gesicht auf dem Schoß ab. Sie hielt sich die Ohren zu. Es war, als ging der Schmerz ihrer Vorgänger in ihr über. Ein paar fremde Erinnerungen erschienen. Stimmen anderer Sternzeichen aus den Erinnerungen dröhnten in ihren Ohren.
Ein Bild blitzte auf. Wie Stier und der Krebs mit seiner Kette sich umarmten. Beide wirkten glücklich. Das Lachen der Beiden ertönte. Sie konnte nicht verstehen, was sie sich sagten, aber sie erzählten sich eine Menge.
»Hört auf mit diesen Erinnerungen!«
Aber es hörte nicht auf.