»Pisan, hilf ihnen, bitte«, rief sie ihrem Partner sofort zu. Es galt keine Zeit zu verlieren. Mit dem Kopf deutete sie auf die Erdzeichen, die im Wasser kaum Möglichkeiten hatten, anständig zu kämpfen oder sich in irgendeiner Weise zu wehren.
Gerade so mithilfe von Pisan schaffte sie es wenigstens eine Eisschicht mitten im Wasser hervorzuholen, damit die Luftzeichen nicht weiterhin versanken. Die Kälte und der Luftdruck von unten würden sie geradewegs umbringen. Jetzt lagen sie auf eine Art Eisbalken. Niemand konnte sagen, wie lange dieser halten würde.
Fische schüttelte zaghaft den Kopf, der inzwischen rot angelaufen war, weil er weiterhin bemüht war, sie nach oben zu ziehen. »Ich kann dich nicht alleine lassen. Es geht nicht.«
Eine Familie von Ottern schwamm an ihnen vorbei. Einer von ihnen drehte sich auf den Rücken um und blickte ihnen nach, als würde er sich über ihre schwierige Situation im Klaren sein. Es hätte nur noch gefehlt, dass er ihnen zuwinkte, so intensiv wie er sie beobachtete. Anstelle dieser hielt er eine stachlige Kugel in seinen Händen. Es musste ein Seeigel sein. Seine Beute.
Wie ein Torpedo glitt Pixo durch das Wasser – ohne Rücksicht auf dem Fischschwarm, den er hierbei streifte und teilweise verletzte – und gelangte zu den Erdzeichen, die versuchten an die Oberfläche zu schwimmen. Mit einem selbst erschaffenen Wasserdruck schlug er sie zurück und grinste hierbei siegessicher.
Um nicht zu ertrinken, saugte sich die Haut der beiden Erdzeichen mit Wasser voll. Sie wuchsen auf ihrer doppelten Maße heran. Mit der Taktik gewannen sie zwar Zeit, aber dadurch wurden sie langsamer und angreifbarer.
Waage hielt Schütze an dem Oberkörper fest, um mit ihm nach oben zu fliegen, aber Ari verließ seine Schutzblase freiwillig, um sie mit zwei Hieben nach unten zu befördern. Sie rasten auf Löwe zu, der das ganze Wasser um sich herum für einen Moment wegdrängte, blaues Feuer erschuf und Waages Arm anzündete. Prompt entstanden Brandblasen auf seiner Haut. Dieser schrie auf und schluckte versehentlich ein Teil des Wassers. Bei diesem Angriff vertieften Löwe und Schütze den Augenkontakt. Obwohl Schütze glühte, konnte er kein Feuer hervorbringen. Unverzüglich umhüllte eine weitere Luftblase Widder, als wäre es seine zweite Haut, obwohl Skorpion im Kampf mit den Erdzeichen beschäftigt war.
Die Quietschlaute eines Orcas wurden aus einigen Kilometer bis zu ihr herangetragen, wodurch sie zur Besinnung gerufen wurde. Diese verursachten eine Gänsehaut bei ihr. Die Orcas klangen nicht glücklich. Es war, als spürten sie die Gefahr.
»Bitte, Pisan, sie brauchen dich. Gehe«, bettelte sie ihn an, nachdem sie sich von den Kämpfenden losgerissen hatte. In den Augen ihren Seelengefährten flackerte Furcht. Sein Kehlkopf ging auf und ab. Die Hände, die den Weg zu ihren Armen fanden, krallten sich darin fest. Diese zitterten.
Hat sie jemals Fische ernsthaft kämpfend gesehen? Im Vergleich zu anderen zog er sich zurück, sobald ein Konflikt sich anbahnte. So war es doch immer, oder? Ihm machten die anderen Angst, sobald sie lauter wurden.
Es ist gegen seine Natur, richtig? Aber irgendwie muss ich ihn doch dazu bewegen, etwas zu unternehmen. Ansonsten sind wir alle verloren.
»Traue dich«, flüsterte sie und ergatterte dadurch seine Aufmerksamkeit. »Du bist nicht schwach, hörst du?«
»Pixo ist stärker, Krebs. Ich werde versagen. Garantiert …«
»Nein, du bist intelligenter als er. Du kannst das, ich weiß das. Du unterschätzt dich und deine Stärken sehr. Du hattest schon immer die besseren Ideen und Strategien, um deine Situation zu vereinfachen. In dir schlummert eine andere Art von Kraft.«
Mittlerweile bemerkte sie das Zittern an seinem gesamten Körper. Er biss sich auf die Lippe, während er zu den anderen schaute. Er ließ sie los. Es würde nicht lang dauern, bis sie unten angekommen war.
Jetzt setzte das schlechte Gewissen ein. Was tat sie? Sie überredete ihren Partner zum Kampf, obwohl ihm gar nicht wohl dabei war. Sie würde es ohnehin nicht ertragen, ihn verletzend zu sehen. Es musste einen anderen Weg geben. Sie musste etwas unternehmen statt alle anderen machen zu lassen.
Wenn ich mich irgendwie in ihre Richtung bewegen könnte, dann –
»Na gut. Ich werde es tun.«
Ehe sie nach ihm rufen konnte, schwamm er auf der Stelle zu den anderen. Pixo stellte sich ihm in den Weg, als hätte er nur auf ihn gewartet.
»Auch mal da, kleiner Angsthase?«
Kaum standen sie sich gegenüber, erstarrte Fische. In dem Augenblick wurde es ihr klarer, dass es keine gute Idee war, ihn loszuschicken.
»B-bitte höre auf da-damit«, bat er den Älteren um den Gefallen. Dieser reagierte mit einem Lachen darauf.
Was tue ich hier eigentlich …? Habe ich etwa den Glauben in seinem Können verloren, obwohl ich ihm gerade eben vom Gegenteil bewiesen habe? Ich weiß, dass mehr in ihm steckt. Ihm fehlt bloß Selbstvertrauen. Er kann so vieles bewegen, wenn er es sich das zutraut.
Für einen Bruchteil einer Sekunde erschuf Fische Blasen um die Ertrinkenden, aber diese platzten erbarmungslos auf. Pixo schlug mit der Faust in Pisans Gesicht. Blut strömte aus seiner Nase. Um Canas Herz wurde es rapide kalt. Ohne Gnade schlug er weitere Male auf ihn ein, allerdings dieses Mal in seinem Bauch, sodass Fische der Atem stockte.
»Du sollst brav warten, wenn die Erwachsenen miteinander reden«, rief Pixo und tritt ihm dieses Mal in den Rücken. »Du bist wohl nicht gut erzogen worden, he? Das werde ich mal gleich nachholen.«
Ein Teil wollte sich umdrehen und dem Schlangenträger sagen, dass er sie auf der Stelle opfern sollte, damit all das vorbei war. Doch sie unterdrückte den Impuls. Sie durfte nicht sterben. Es wäre alles umsonst gewesen, falls sie sich selbst aufgab. Sie rief sich Schützes Rede ins Gedächtnis und zwang sich, die Worte, die ihr auf der Zunge lagen, für sich zu behalten.
Stier lief bläulicher an. Die Luft wurde zu knapp für ihn. Seine Augen wanderten zu ihr, ehe er bewusstlos wurde.
Verdammt, er hält es nicht länger aus!
Steinbock tat etwas, womit niemand gerechnet hätte: Er nutzte Ranken wie Tentakeln, um Stier in rasender Geschwindigkeit zu ihr zu befördern. Kaum berührten Tauns Füße das Symbol auf der Steinplatte, erschien eine Lichtsäule um ihn herum. Er bekam wieder Luft. Trotz der Bewusstlosigkeit trieb er nicht weg, sondern blieb in seiner Lichtsäule gefangen. Seine Entscheidung fiel, auch wenn er sie nicht bewusst gewählt hatte. Würde Stier ihn dafür hassen, sobald er erwachte? Auch, wenn Capyo lediglich sein Wohl im Sinn hatte?
Steinbock nickte ihr zu, bevor er genauso in Ohnmacht fiel. Dank der Ranke, die er erschaffen hatte, schaffte sie es, eine Verbindung zwischen sich und ihm zu erstellen. Die Luftblase kroch regelrecht als kleines Etwas an der Pflanze entlang, ohne abzutreiben, bis dieser bei Steinbock ankam und sich schlagartig vergrößerte. Sofort hüllte sie ihn ein.
Ich habe es geschafft! Ja!
Sie lächelte, bis ihr die Freude in Kürze genommen wurde: Löwe verbrannte inzwischen Waages Haut in einem Grad, dass der Geruch bis zu ihr trat. Schütze wurde von Ari festgehalten, der gezwungen wurde, seinem Partner beim Leiden zuzuschauen. War das Löwes Art, Rache für sein Ungehorsam zu zeigen?
»Gib es bitte auf«, hörte sie Jungfrau zu Fische sagen, der sich aufs Neue aufrappelte, um gegen Skorpion zu kämpfen. »Ihr habt keine Chance. Das Kräfteverhältnisse ist eindeutig: Du bist schwach.«
»Wenn«, knirschte Fische und ballte seine Fäuste, »Cana sagt, ich schaffe das, dann schaffe ich das. Ich werde sie nicht enttäuschen!«
»Mache dich nicht lächerlich«, grätschte Pixo dazwischen. »Von den Wasserzeichen her bist du die Schande. Du warst schon immer der Schwächste von uns.«
Du fieser, gemeiner, doofer, brutaler …
Ihr kamen zig Worte in den Sinn, die sie ihm zubrüllen wollte, aber genau in diesem Augenblick ließ der Kloß in ihrem Hals es nicht zu, zu sprechen. Sie bemerkte, wie Pixo absichtlich Pisans Selbstwertgefühl attackierte, um ihn auf mehreren Ebenen zu verletzen. Das konnte Cana nicht zulassen!
Auf einmal versammelten sich große Meerestiere in ihre Nähe. Ein Hai schwamm mit einer bedrohlichen Aura zwischen den beiden Wasserzeichen. Dieser visierte sie an, während er das Maul weit öffnete und seine scharfe Zähne präsentierte. Aus seinem Inneren trat etwas Rotes heraus.
Die Töne eines Wals waren aus der Ferne zu hören. Ein Saltie gesellte sich zu ihnen und ließ sich vom Wasser treiben, als käme er lediglich für eine nette Unterhaltung vorbei.
»Verschwindet, na los!«, befahl Pixo ihnen und scheuchte sie mit einer Armbewegung weg, aber keiner gehorchte ihm. Stattdessen vermehrten sich die Meerestiere an diesem einen Punkt.
Einer der Haie schwamm auf Jungfrau zu und umkreiste ihn in ständiger Bewegung. Es schien, als würden sie alle auf Fische hören. Natürlich taten sie das: Keiner verstand sich mit den Meerestieren besser als er.
»Ich wusste es, dass er raffiniert ist«, sprach Cana ihren Gedanken lauter aus. Der Widerstand im Hals gab nach. Wenn sie könnte, würde sie den Arm vor lauter Jubel hochheben und ihren Partner anfeuern. Er machte sich seine Umgebung zu Nutze. Besser als Pixo es jemals tun würde.
Anschließend wandte sie den Kopf zum Schlangenträger. Sie verengte die Augen zu Schlitzen. Ein Muskel unterhalb ihrer Augen zuckte. »Und? Änderst du den Ort wieder, nur weil wir aktuell im Vorteil sind, hm?«
Schweigsam schaute er auf sie herab, ohne den Kopf zu bewegen.
»Höre mal«, begann sie, »ich habe dich durchschaut, okay? Ich bin mir sicher, dass du all das auch nicht willst. Du hättest die Macht, alles unmittelbar zu beenden, aber du tust das nicht. Du hast so oft versucht, mich von dir fernzuhalten. Zu oft hast du mich gewarnt. Ich weiß, so egal bin ich dir ni –«
Sie blinzelte und die Umgebung änderte sich aufs Neue. Hätte sie ihn nicht auf die Idee bringen sollen? Dieses Mal befanden sie sich in einem weißen Raum, der unendlich groß erschien. Niemand, außer er und sie waren an diesem Ort. Hier herrschte absolute Stille, dass sie sich atmen hörte.
»Wo sind wir hier? Wo sind die anderen?«
Aus Reflex bewegte sie sich und bemerkte erst jetzt, dass sie nicht mehr gefangen war. Die Platte war verschwunden. Sie entdeckte Stier genauso wenig. Was ging hier vor sich?
»Das«, setzte er an, »ist wie ein Nebenraum, in dem das Nichts und Alles herrscht. Während dein Körper sich immer noch im Wasser befindet und die anderen gegeneinander kämpfen, bist du gleichzeitig hier.«
»Was?« Das wurde ihr zu hoch.
»Hier wird mit deinen Gedanken gearbeitet. Was du dir vorstellst, es erscheint.«
Sie probierte es aus: Ein Strand tauchte vor ihr auf. Sie roch das Meer und spürte Sandkörner ins Gesicht fliegen. Vor lauter Freude, sich wieder bewegen zu können, breitete sie die Arme aus, während sie sich auf einem Bein drehte.
Es war atemberaubend schön, seine eigene Freiheit zurückgewonnen zu haben.
Grinsend drehte sie sich zu ihm um. »Boah, wie cool das hier ist! Sage mal, ist es dir etwa so die ganze Zeit möglich, überall auf der Welt gleichzeitig zu sein?«
»Cana, noch einmal frage ich dich: Was denkst du, was ich bin?«
Sie seufzte. Warum konnte er nicht einmal vernünftig auf ihre Frage antworten? Stattdessen sorgte er für weitere in ihrem Schädel.
»Du bist der Schlangenträger, was denn sonst?«
»Nein.« Er blickte ihr tief in die Augen. Knapp über dem Boden flackerte der untere Teil seines Körpers, als könnte er sich jeden Moment auflösen. »Ich … ich bin die Welt.«