Cana schnaubte auffällig laut.
Im gesamten Raum roch es nach Wald. Steinbock schnitze Holz. Je länger er es bearbeitete, desto deutlicher wurde das Gerüst. Es sah nach einem Tier aus. Eines, das man nicht direkt definieren konnte.
Capyo führte den Handmeißel mit einer Ruhe, als bestünde das Material aus Glas. Wieder schnaubte Cana. Sie näherte sich ihm, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und beugte sich vor, dass ihre Haare seine Schultern berührten. Kurz brach er ab und sah ihr in die Augen. Ein paar Sekunden später drehte er sich um und schnitzte weiter.
Wie kann er davon keinen kaputten Rücken bekommen? Wie viele Stunden sitzt er denn jetzt hier, ohne mit mir zu reden? Manno! Eigentlich habe ich seit dem letzten Mal eine Menge Fragen …
Das, was er erschuf, war breit und besaß gebogene Hörner. Noch war kein Gesicht zu erkennen. Sie beugte sich näher, sodass er kaum Bewegungsfreiheiten hatte. Kurzerhand legte er das Werkzeug auf dem Tisch ab.
»Krebs …«
»Hm?«
»Was möchtest du von mir?«
»Äh. Du machst das voll gut mit dem Ding da, also … okay. Ich brauche einen Gesprächspartner. Mir ist langweilig.«
»Ich bin mir sicher, du findest jemand Gesprächigeres als mich.« Er nahm das Werkzeug ein weiteres Mal an sich. Ein größeres Stück brach ab. Die Hände wurden unruhiger. Sie sah, wie sie zitterten. War sie jetzt schuld?
Cana schürzte die Lippen. War das ein Korb, den sie bekam? Die einzigen Sternzeichen, die zuhause waren, waren die Luftzeichen. Sie waren kommunikativer als er. Mit ihnen in Kontakt zu treten, fiel ihr schwerer. Sie blieben nie lange an einem Ort. Das war anstrengender als ein gesprächsbequemer Typ.
Als hätten sie geahnt, dass über sie gesprochen wurde, flog Zwillinge und schritt Wassermann zu Fuß in den Raum. Zwillinge war auf dem Kopf – das blonde Haar, das fast den Boden berührte, so lang wie es war, könnte er zum Wischen verwenden –, während er im Schneidersitz saß. Trotz der Position winkte er ihnen zu.
»Hi, Gemay.« Sie neigte den Kopf nach links, um ihm in die blauen Augen schauen zu können. Merkte er nicht, dass es mächtig ungemütlich war, sich so mit jemandem zu unterhalten? »Hey, Aquan.«
Wassermann nickte ihnen zum Gruß zu, während seine Hände in den Hosentaschen glitten. Die silbrigen Locken wippten dabei leicht.
Abrupt flog Zwillinge auf Cana zu und starrte sie verkniffen an. »Nenne mich beim wahren Namen, Krebsi.«
»Aber gestern sagtest du noch, wir sollen dich nur beim Pseudonym –«
»Heute ist heute und gestern war gestern«, grätschte er ihr dazwischen. Er machte eine wegwerfende Geste. »By the way, süßer Look. Zum Anbeißen. Arr, girl.«
Sie berührte ihre geflochtenen Zöpfe, die ihr bis zu den Brüsten reichten und schaute an sich herab. Der Minirock war heute in Blau. Die Overknees Socken waren in Schwarz mit weißen Streifen. »Lügner! Vor einer Woche sagtest du noch, damit sähe ich kindisch aus.«
»Meinung geändert. Komm damit klar, Sweety.« Anschließend entfernte er sich von ihr und schwebte ohne ein festes Ziel im Raum herum. »Ich habe keine Ahnung, was ich kochen soll. Will ich was Süßes? Oder Deftiges?«
Sie legte den Kopf in den Nacken. Am liebsten würde sie schreien. Es war jedes Mal das Gleiche: Sobald sie sich mit Gemay unterhielt, bekam sie kurzfristig Kopfschmerzen. Dieser machte sie mit seinen zwei Gesichtern wahnsinnig. Wie lange hielten seine Meinungen? Zehn Sekunden?
»Du weißt nie, was du willst«, neckte Wassermann. Herausfordernd hob er die Augenbrauen. »Flatterhaft wie eh und je.«
»Das ist nicht wahr.« Sofort flog er auf Wassermann zu und umklammerte ihn mit Beinen und Armen. »Dich will ich doch immer.«
»Du hast Glück, dass du mich hast. Ich weiß mit dir umzugehen, mein Schmetterling.« Wassermann hob ab, sodass seine Füße knapp über den Boden schwebten. Die Hände blieben in den Hosentaschen. Er drehte sich zu Krebs um. »Mache mal die Augen zu. Das ist nichts für Kinderaugen.«
»Häh? Ich bin kein Kind!«
Beide küssten sich mit Zungeneinsatz. Sie errötete und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Zwischen den Fingern sah sie beide grinsen.
»Man kann sie damit immer so schön ärgern«, gab Gemay von sich. Er leckte sich über die Lippen, während er seinen Partner ansah.
Schweigend wandte sie sich an Steinbock, der mittlerweile ein gutes Stück vorangekommen war. Interessierte er sich überhaupt für etwas, was um ihn herum geschah?
»Sage doch mal was«, stieß sie ihn mit dem Ellenbogen an. »Siehst du, deswegen rede ich nicht so gerne mit Luftzeichen.« Sie blies die Wangen auf und verschränkte die Arme vor der Brust.
Beide zuckten mit den Schultern und glitten durch die Luft, bis sie aus dem Zimmer verschwanden.
Bloß keine Sekunde zu lange an einem Ort sein, was? Kirre, ihr macht mich kirre!
Mit einem Holzrest tippte sie Steinbock an. Selbst, als sie in seine Wangen pikste, störte er sich nicht daran. »Hey, beachte mich mal. Ich habe noch einen Tag Hausarrest. Mir ist langweilig.«
»Das«, begann er nach einer Weile, »ist keine Langeweile. Das kommt, weil Fische nicht hier ist.«
»Wie meinst du das?«
Seine Augen blieben auf das Werk gerichtet. Er drehte es und nahm es genauer unter die Lupe. Unebenheiten entfernte er ohne zu zögern. Beim genaueren Hinsehen erkannte man seine rauen, trocknen Hände. An einigen Stellen blutete er. Hatte er jemals etwas von Creme gehört?
»Er ist dein Seelenverwandter. Wenn man zu lange von dem Sternzeichen, der zu einem gehört, entfernt ist, fühlt man diese unendliche Unruhe in sich. Du weißt, was ein Seelenverwandter ist, oder?«
Sie nickte zögernd. »Ja, ich glaube schon. Zwillinge und Wassermann sind welche. Jungfrau kommt als Einziger mit Skorpions krankhafte Eifersucht klar. Oder du und Stier seid ein eingespieltes Team, richtig?«
Auf einmal verfinsterte sich sein Gesicht. Hatte sie etwas Falsches gesagt? Ihre Antennen spürten die veränderten Schwingungen.
Soweit sie wusste, waren Waage und Schütze zusammen. Waage war der Einzige, der mit Schützes Abwesenheit und dem Drang nach Freiheit zurechtkam. Sobald er da war, genoss er seine Nähe und sobald er weg war, wartete er auf ihn. Das war das, was den Seelenverwandten ausmachte: Sie liebten ihren Partner so, wie er war.
Löwe platzte in den Raum herein. Widder war dicht hinter ihm.
»Ich kann es nicht fassen«, rief Ari mit glänzenden Augen und erhobenen Fäusten, »du hast neunundsechzig Neugeborene geschafft. Und trotzdem wirkst du nicht ausgelaugt. Löwe, du bist der Wahnsinn!«
Steinbock begann zu schnitzen, als Löwe einen Moment lang zu ihnen herüber spähte. Hierbei streifte sein strenger Blick Cana, die bemüht war, ein Lächeln aufzusetzen. Dass ihr Anführer sie lange mit dem begangenen Fehler bestrafen würde, ließ er sie jeden Tag aufs Neue spüren.
Zwar durfte Cana nicht heraus, aber sie bekam mit, wie gut und effizient Löwe seine Arbeit erledigte. In den Moment, in denen die Menschenkinder geboren wurden, wurde dem Sternzeichen Energie abgezogen. Wenn ein Sternzeichen es übertrieb, konnte er dabei sterben. Zumindest erzählte man es sich so. Löwe war von allen am robustesten.
»Siehst du das?«, murmelte Steinbock nach einer Weile.
»Hm?«
»Wie Widders Blicke an Löwe kleben, meine ich.«
Cana betrachtete sie.
»Löwe braucht diese Art von Aufmerksamkeit für seinen Ego … dieses Honig um den Maul schmieren«, berichtete Steinbock. »Er liebt es, wenn andere seine Leistungen in den Himmel loben. Widder genießt es, die Aufmerksamkeit eines Hochrangigen zu erhalten, um sich besser zu fühlen. So gut ergänzen sich nur Seelenverwandte-Sternzeichen. Sie geben sich das, was sie brauchen, ohne groß zu überlegen. Es geschieht instinktiv.«
Sie nickte. Wenn Fische und sie sich gegenseitig bei ihrem Gefühlschaos unterstützten, war es ihr so, als ob das niemand anderes so gut konnte wie er. Eine Berührung von ihm und sie spürte Ruhe in sich aufkommen. Von der gesamten Familie war er ihr liebster Verwandter.
»Ja.« Sie lächelte selig. »Das ist eine schöne Sache, oder?«
Eine gewisse Zeit lang sagte er nichts. Hatte er sie gehört?
»Wenn es auf Gegenseitigkeit beruht, dann ja.«
»Das tut es doch automatisch.«
»Das stimmt. Wenn man sich zu dem vorgegebenem Sternzeichen hingezogen fühlt. Wenn man normal ist.«
Sie bemühte sich, seine Aussage zu begreifen. Sie verzog den Mund. Zu welchem Sternzeichen sie sich hingezogen fühlten, waren seit Jahrzehnte von den Menschen festgelegt. Daran konnten sie nichts ändern. In jeder ihrer Zeitschriften stand wer bei wem besser aufgehoben war. Ihr Platz war bei Fische. Das stand fest! Der Kleine war ihr Ein und Alles.
»Warum sollte …« Sie dachte nach, als ihr etwas einleuchtete. Wie ein Blitz schlug die Erkenntnis ein. »Du und Stier seid keine Seelenverwandte. Aber wer denn dann?«
Steinbock legte seine Arbeit ab. Es fehlte nicht viel, bis sie beendet war. Jetzt erkannte sie, welches Tier er geschnitzt hatte: Widder.
Vorsichtig schielte er zu den Feuerzeichen. Capyos Ohren waren gerötet. Die kühlen Augen wurden wärmer, als er Widders Worten lauschte. Worte, die für Löwe bestimmt waren.
»Ist«, setzte sie an, »Stier okay damit? Stört es ihn nicht, dass –«
»Stier und ich verstehen uns blendend, aber es ist nun mal Fakt, dass wir keine romantischen oder erotischen Gefühle füreinander hegen. Er befriedigt diese Unruhe in mir nicht ansatzweise, egal wie oft er bei mir ist. Ich bin ihm dankbar, dass er mich so gut versteht und akzeptiert. Das ist nicht selbstverständlich, ich weiß. Dass er das Gleiche durchmacht wie ich, verbindet uns allerdings und schweißt uns enger zusammen.«
Sie weitete die Augen. »Was? Er auch? Auf wen ist er –«
»Besser du fragst ihn selbst. Ich habe nicht das Recht dazu.«
Wie würden die anderen Sternzeichen reagieren, wenn sie über die Eigenart der beiden Erdzeichen Bescheid wussten? War das eine verbotene Sache? Sie besaß keine Informationen darüber, um dieses abnormale Verhalten einschätzen zu können. Nicht mal bei den ausländischen Sternzeichen hatte sie so etwas erfahren.
In dem Augenblick wurde sie sich bewusst, dass Steinbock ihr etwas Geheimnisvolles anvertraut hatte. Träumte sie? Seit wann öffnete er sich?
Sie grinste breit – ihre Stimmung erhellte sich drastisch. Irgendwann klatschte sie ihm auf dem Rücken. »Du kannst ja doch reden, wenn du warm geworden bist, he? Finde ich klasse!«
Er schaute auf seinen Händen herab und erwiderte nichts.
Irgendwann wurde Widder auf sie aufmerksam. Er stemmte eine Hand in der Seite. Sein prüfender Blick fiel auf Capyo. »Steinbock?«
Sofort schnellte sein Blick zu Ari. Er war mit einem Ruck aufgestanden. Das geschnitzte Holz rollte herunter. Ein Teil des Hornes brach entzwei. Es schien ihn nicht zu stören. Im Gegenteil: Erwartungsvoll wartete er ab, was das Feuerzeichen ihm sagen wollte.
»Vergiss nicht, den Müll raus zu bringen. Schließlich bist du diese Woche dran.«
Steinbock erstarrte eine Weile. Als wäre er wieder zum Leben erwacht, senkte er den Blick und presste die Lippen aufeinander. Wortlos nickte er. Es war, als hätte Widder ihm eine Ohrfeige gegeben.
Cana ballte die Hand zu einer Faust, als sie die Interaktion der beiden beobachtete. Besseres hatte Ari nicht zu sagen? Keine Begrüßung? Kein Lob für sein Hobby? Nach und nach kochte es in ihr. Es pfiff bereits in ihren Ohren. Der Puls stieg an. Sie machte einen Schritt auf sie zu.
»Ari! Hast du sie nicht mehr al –«
Steinbock nahm ihre Hand und drückte sie. »Hilfst du mir kurz?«
Zu viele Worte lagen ihr auf der Zunge. Selbst, wenn Löwe ihre Strafe verlängern würde und ihre Suche nach dem 13. Sternzeichen auf Eis blieb, hätte sie Ari zusammengefaltet, aber Capyo wollte es nicht, also riss sie sich zusammen. Dass man die Gefühle seines Gegenübers verletzte, insbesondere von ihrer Familie, ließ sie schon des Öfteren rot sehen. Sobald sie rot sah, verabschiedete sich die Rationalität.
Mit Zorn im Bauch folgte sie Capyo und hinterließ Fragezeichen auf den Gesichtern der Feuerzeichen.