Das Stimmengewirr brach abrupt ab. Absolute Stille entstand im Raum. Sie löste in ihr das Bedürfnis aus, tiefere Atemzüge zu nehmen. Der Augenblick kam, in der sie sich sammeln und ihren eigenen Gedankengängen widmen konnte. Trotz eigenes Zureden schlotterte sie am gesamten Körper. Sie presste den Kopf zusammen. Es war eine Vielzahl an Bilder, die sie verarbeiten musste.
Was zur Hölle war das nur? Mir brummt der Schädel …
Zu ihrer Linken entstand ein Riss in der Wand. Dieser schlängelte sich im Zickzack-Muster an der Stelle entlang. Es bröckelte. Ruhig verfolgte sie die Geschehnisse, als wagte es ihr Körper nicht, einen falschen Schritt zu machen. Mit der Zeit entfaltete sich die Spalte, bis ein großes Loch freigelegt wurde. Capyo stand auf der andere Seite. Um das Gemäuer herum bildeten sich pinke Blüten.
»Endlich bist du erwacht.«
Erwacht? Ich? Wovon –
Cana blickte nach vorne. Sie blinzelte. Alle Krebse, bis auf eine, waren verschwunden. Mit einem Mal.
»Hey, alles okay?«
Ausatmend raffte Cana sich auf. Sie nickte. »Woher wusstest du, dass ich einer Illusion ausgesetzt war und wie hast du mich gefunden?«
»Weil ich dich schreien hörte«, erklärte er. »Es tut mir leid, dass es gedauert hat, aber ich musste mich von meiner Fantasiewelt losreißen.«
»Du warst auch … aber … wie hast du aus eigener Kraft, also –«
»Weil sie viel zu schön war, um wahr zu sein.« Obwohl er ein Lächeln aufsetzte, wirkte er nicht fröhlich. Es waren die Augen, die nicht logen. »Ari wird mir niemals diese Aufmerksamkeit schenken.«
»Oh.«
»Ich sagte dir bereits, lasse dich nicht von dem dreizehnten Sternzeichen täuschen. Sei jetzt auf der Hut, verstanden?«
»Ja.«
Die Augen des Krebses vor ihr glühten rot. Würde dieser gegen sie beide kämpfen? Krebse strebten nach Harmonie. Dass sie sich mit ihnen anlegen wollte, war unmöglich. Das war gegen ihre Natur.
Oder? Wir Krebse haben doch alle den gleichen Kern …
Aus dem Körper ihres Gegenübers kamen schattenartige Tentakel heraus. Bevor Cana einschreiten konnte, griff der Krebs Steinbock an.
Dieser wich gekonnt aus. Er zerschnitt sie mit einer rasiermesserscharfen Attacke in zwei Stücke. Diese Teile setzten sich zusammen, als wäre nichts passiert. Als Steinbock Wurzeln aus seinen Händen heraus kommen ließ, blockierte ihre Vorgängerin seinen Angriff mit einer Steinmauer, die aus der Erde hochschoss.
Was? Seit wann kann ein Wasserzeichen das Element Erde kontrollieren?
Der Raum veränderte sich mit einem Wimpernschlag. Alles wurde grell. Sie befanden sich auf einer Eislandschaft. Von überall her reflektierte das Eis, das Licht zurück. Capyo kniff die Augen zusammen. Seine Lippen verfärbten sich bläulich. Der eisige Wind kam vom dreizehnten Sternzeichen. Dieser sammelte sich unter ihm und ließ irgendwann einen leichten Nebel um ihn herum entstehen.
Eine Tentakel erwischte Steinbock. Sie klebte an seiner Stirn, die sich nicht abtrennen ließ. Sobald er sie berührte, biss er die Zähne vor Schmerzen zusammen. Die scharfen Blätter, die er auf sie abfeuerte, brannten noch in der Luft zu schwarze Kohle, als der Krebs Feuer spie.
Das Element Feuer jetzt auch noch … aber wie?
Sofort nutzte Cana die Gelegenheit, in der der Krebs abgelenkt war. Sie schlitterte auf ihre Gegnerin zu. Das Rutschen auf dem Eis bereitete ihr im Vergleich zu Steinbock keine Schwierigkeiten, der ständig aus dem Gleichgewicht kam.
Mit einem hohen Sprung klammerte sie sich mit Armen und Beinen an ihre Vorgängerin.
»Lasse ihn in Ruhe!«, schrie Cana. »Ich schwöre dir, wenn du ihm weiterhin wehtust, wird meine Rache unermesslich sein.«
Jede Sekunde, wo sie mit ihr in Körperkontakt blieb, tat grenzenlos weh. Die Berührung brannte, als ätzte etwas ihre Haut. In ihre Handinnenflächen prickelte es schmerzhaft, als ob Brandblasen aufplatzten.
»Capyo hat dir nichts getan. Es war meine Idee, hier her zu kommen. Verdammt, hörst du mir überhaupt zu? Ich habe dich durchschaut. Ich weiß, wer du wirklich bist. Schlangenträger, höre auf!«
Kaum erwähnte sie seinen Namen fiel die Hülle. Er zeigte seine wahre Gestalt. Sie hatte alles auf eine Karte gesetzt und behielt recht. Die Illusionen waren nicht beendet, als Steinbock erschienen war. Vor ihnen war immer noch eine gewesen.
»Warum machst du das?«, zischte sie. Ganz gleich, wie oft sie eine Eisschicht um sich herum bildete, der Schmerz raubte ihr die Energie. Lange könnte sie ihn nicht in Schach halten. »Wir wollen dir doch nur helfen. Warum kapierst du das nicht?«
Die Tentakel verschwand, aber das Erdzeichen fiel zu Boden. Seine Augen blieben geschlossen. Was Cana aus ihrer Starre befreite, waren seine Atemzüge.
Er ist nur ohnmächtig … nur ohnmächtig … bleib cool, Cana.
»Für mich gibt es keinen Platz.«
»Häh?«
Ehe sie realisierte, dass der Schlangenträger sich mit ihr unterhielt, wurde sie mit voller Wucht von ihm weggeschleudert. Sie knallte mit dem Rücken gegen einen Eisblock, der durch den Aufprall zerbrach. Ihr stockte der Atem.
In ihren Ohren klingelte es. Stimmen echoten.
Krieg der Sternzeichen.
Verdammt, was soll das heißen?
Krieg der Sternzeichen.
»Wenn«, hechelte sie, während sie ihm tief in die Augen schaute, »du mich so sehr hasst, dann muss ich das akzeptieren, aber gebe den anderen wenigstens eine Chance. Nicht alle sind so wie ich.«
Sie lieferte ihm einen giftigen Blickduell. Dieser ließ ihn unbeeindruckt. Nicht einmal ein Muskel zuckte. Es war, als hätte er mit dem Leben abgeschlossen.
Ein Seufzen seinerseits. »Cana, wiederhole den Fehler nicht immer und immer wieder. Ich bin es leid. Ich will es nicht mehr.«
»Was für einen Fehler? Den Versuch, dich in die Familie zu integrieren?«
Er schwieg, aber erwiderte ihren Blick unentwegt. Dafür, dass er Steinbock wehgetan hatte, hätte sie vor Zorn kochen müssen, aber etwas in seinen Augen entspannte sie minütlich. Es schien nicht, als ob er die Schmerzen genoss, die er ihnen zufügte.
»Wenn du mir nichts sagst, kann ich dir nicht helfen. Das hast du soweit begriffen, ja? Verstehe doch, dass es an uns liegt, wie unser Leben verläuft. Alles liegt in unserer Hand. Du musst dich nicht von uns fernhalten. Es ist deine Entscheidung. Du gehörst genauso zu uns wie wir zu dir. Und … und ich … ich glaube nicht, dass du böse bist.«
Als sie in sein Gesicht blickte, entstand Leben in seinen Augen. Er riss sie auf. Etwas machten ihre Worte mit ihm. Hatte sie einen Kern getroffen? Welchen? Die Freude darüber blieb nicht lang, denn seine Gesichtszüge froren ein weiteres Mal ein und raubten ihm das Licht aus den Augen.
»Schlangenträger, ich … ich habe so viele Fragen, die du nur wahrscheinlich beantworten kannst.«
»Ich bin anders als ihr.«
»Wie meinst du das?«
»Man kann nichts gegen das Schicksal unternehmen. Es kommt so, wie es kommen muss. So war es die ganze Zeit. Jeder hat seine Aufgabe, die er erfüllen muss. Ein Neuanfang und ein Ende müssen geschehen, sonst gibt es ewigen Stillstand oder ewige Veränderung.«
»Wer hat dir so was eingeredet? Siehst du, dir tut die Isolation gar nicht gut. Du redest wirres Zeug.«
Etwas raschelte in Capyos Richtung. Als sie sich ihm zuwandte, bemerkte sie, wie er sich mühselig bewegte. Mithilfe von zwei schmalen Baumstämmen, die er aus dem Eis sprießen ließ, stemmte er sich hoch. Als würden Krückstöcke ihm den nötigen Halt geben, stand er auf wackeligen Beinen. Aus dem Baumstämmen strömte ein Licht, das Capyo eine grüne Aura verlieh. Seine verletzte Haut schloss sich nach und nach.
Ein Glück, es geht ihm halbwegs gut.
Ein Lächeln breitete sich in ihrem Gesicht aus.
»Ich wünschte, du hättest recht, Cana. Aber es wird sich niemals etwas ändern. Es ist unser Schicksal.«
Sie drehte den Kopf zu ihm um.
»Das nächste Mal, wenn wir uns sehen, wird tödlich enden. Die Energie geht zu Neige.«
Was für eine Energie …?
Er schwebte nach hinten. Sie rannte auf ihn zu, aber sie war zu langsam. Die Eisblöcke, die er vor ihrem Weg erschuf, brachten sie jederzeit dazu, abzubremsen. Eine Wasserschuss aus ihrem Mund erreichte ihn nicht. Er verschwand in der Wand. Lediglich die schattenartigen Augen waren noch zu erkennen. Als er sie schloss, verschmolz er mit dem Gebäude. Ob er noch da war oder nicht, konnte sie nicht mehr sagen.
Ihre Faust traf die Wand. Mehrmals. »Komm da raus, Asklepios! Warum redest du so in Rätsel? Was bedeutet Krieg der Sternzeichen? Warum werde ich bald sterben? Warum sollst du anders sein als wir? Hey! Ich rede –«
Capyos Hand landete auf ihre Schulter. Als sie sich ansahen, schüttelte er den Kopf langsam. »Lasse es gut sein, Cana.«
In ihren Augen bildeten sich Tränen. Ehe sie flossen, schmiegte sie sich an ihm. Er legte die Arme um sie.