Strophe 2: Die Helden von Andromeda
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Andromeda war erschaffen, und lange Zeit herrschte Frieden.
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Eines Tages zogen Sabik, Kornephorus und Mirfak durch die Weiten der Ebene und begannen einen Streit. Es war kein ernsthafter Streit - die Söhne von Canis Major, Ursa Major und Lupus waren beste Freunde und förmlich unzertrennlich. Doch während vieler Wettstreite im Reich der Sterne hatten sie gelernt, dass kein anderes Wesen einen von ihnen drei besiegen konnte. Weder an Kraft noch an Geschwindigkeit war ihnen jemand ebenbürtig, und nun stritten sie, wer von ihnen dreien wohl der Beste sei.
Allbald beschlossen sie, sich im Wettstreit zu messen. Sie eilten zu Corvus und baten den Raben, Richter in ihrem Streit zu sein, damit das Ergebnis nachher nicht angezweifelt werden sollte und jeder wissen würde, wer von ihnen der größte Held war. Corvus versprach, sich darum zu kümmern. Er bat um drei Tage, um alle Vorbereitungen zu treffen, was die drei Söhne ihm gerne gewährten.
Corvus ließ nun eine Rennstrecke abstecken und suchte ein Feld schwerer Steine für die Proben in Geschwindigkeit und Kraft. Seine Arbeit blieb natürlich nicht unbemerkt und bald verbreitete sich die Nachricht von dem geplanten Wettbewerb, sodass drei Tage später nahezu alle Bewohner der Ebenen versammelt waren, um dem Wettstreit beizuwohnen. Die Titanen waren gekommen, ihre anderen Kinder, ihre Verbündeten und viele der Geschöpfe, die die Weiten inzwischen bevölkerten, bewacht und beherrscht von den Titanen. Sie alle interessierten sich dafür, welcher der drei großen Helden nun der Größte von allen sein würde.
Sabik, Kornephorus und Mirfak erschienen pünktlich zum Sonnenaufgang, und waren erstaunt von der Zahl der Zuschauer. Begierig, sich zu beweisen, machten sie sich bereit.
Die erste Probe war die der Geschwindigkeit. Neben den reißenden Stromschnellen des Flusses sollten die beiden Wölfe und der Bär einander jagen. Kornephorus trat zwischen Sabik und Mirfak an und knurrte leicht, als er die Strecke sah. Ursa Majors Sohn wusste, dass er nicht sehr schnell war. Schneller als viele, ja, aber er war es nicht, den sie 'Pfeilstern' riefen.
Entsprechend war Sabik sicher, diesen Streit gewinnen zu können.
Corvus wartete, bis alle drei an der Startlinie standen. Unter den neugierigen Blicken der Zuschauer krächzte er laut und die drei Helden rannten los.
Und wie sie rannten! Schneller als der rauschende Fluss jagten sie dahin, gehüllt in Sternenlicht. Sabik und Mirfak ließen Kornephorus bald hinter sich, auch wenn der Bär in beeindruckender Geschwindigkeit rannte, und dann setzte sich Sabik weiter und weiter nach vorne. Canis Major brüllte am lautesten von allen, als sein Sohn die Spitze gewann.
Das Ziel rückte näher, doch plötzlich waren nur noch zwei Kontrahenten auf der Strecke. Verwirrtes Gemurmel erhob sich unter den Zuschauern. Keiner hatte gesehen, was geschehen war, doch es waren nur Sabik und Kornephorus, die die festgelegte Ziellinie überwanden.
Wo war Mirfak? Da erklang ein Ruf: Der Sohn von Lupus war in den Stromschnellen gesichtet worden. Er paddelte ans Ufer und trug im Maul einen jungen Fuchs. Wie sich herausstellte, war dieser in den Fluss gefallen, was nur Wenige mitbekommen hatten. Mit einem beherzten Sprung hatte Mirfak ihn gerettet.
Sabik und Kornephorus wollten das Rennen fairerweise wiederholen, doch Mirfak war nach dem Schwimmen zu erschöpft und so einigten sie sich, dass er den zweiten Platz behalten würde. Sabik trug nun den Titel als größter Held, doch ein Wettkampf stand ihnen noch bevor, und vor diesem graute es Pfeilstern. Es war der Wettstreit der Stärke und er war sich sicher, dass er nicht mit Kornephorus mithalten könnte.
Drei Tage später versammelte sich alles am Fuß des Gebirges, wo mächtiges Geröll herumlag. Diese großen Brocken sollten die drei Freunde in ihnen zugeteilte Bereiche schleppen. Je mehr sie schafften, desto besser.
Kornephorus, der Sohn der Bärin, schnaubte selbstbewusst.
Auf Corvus' Signal hin begann der Wettstreit. Kornephorus stellte sich bald als Sieger heraus. Er schaffte dreimal so viele Brocken wie die beiden Wölfe. Doch zwischen Sabik und Mirfak war es ein enges Rennen. Sabik wusste, dass er, wenn er Mirfak hier besiegte, mit einem zweiten und einem ersten Platz als Gewinner des gesamten Kampfes hervorgehen würde. Doch sie waren fast gleichauf mit ihren Brocken. Mirfak drohte, Sabik zu übertrumpfen, und der Sohn von Canis Major strengte sich noch weiter an.
Doch dann, als die letzten Brocken verteilt wurden, war Mirfak erneut verschwunden. Sabik hatte es geschafft, mehr Brocken als der andere Wolf zu sammeln, doch auch ohne zählen war deutlich, dass Kornephorus der Gewinner war.
Nun jedoch begann erneut die Suche nach Mirfak. Wohin war Lupus' Sohn diesmal gegangen?
Die fünf Späher mussten losziehen, um ihn zu suchen, und so fanden sie ihn schließlich im Gebirge, wo er ein verlorenes Zicklein aufgespürt hatte, das beinahe aus den Grenzen der Andromeda herausgewandert war. Der graue Wolf führte es zurück ins Tal und Lupus brummte besorgt, als er die ganze Geschichte hörte. Das Zicklein hatte sich von seiner Herde entfernt, ehe diese zum Wettbewerb ins Tal geeilt war, und hatte den Weg zurück nicht gefunden.
"Das war sehr gefährlich", teilte Lupus den Versammelten mit. "Nicht nur für das Zicklein, sondern für uns alle. Denn die Finsternis lauert noch dort draußen. Sie sucht nach einem Weg, die Berge zu überwinden und unser friedliches Tal zu betreten. Wenn auch nur das kleinste Licht über die Grenze gelangt, kann die Dunkelheit den Eingang sehen und hereinkommen."
Alle schwiegen, bestürzt über diese Offenbarung.
"Wie gut, dass Mirfak es rufen gehört hat", stellte Canis Minor fest, und alle stimmten zu.
"Aber nun ist der Wettbewerb ruiniert", sagte Sabik mit einem schweren Seufzen. "Ich wette, Mirfak hätte mich in diesem Kampf ebenfalls besiegt; ihm steht der zweite Platz zu, wie bevor."
"Wir werden es anders werten", sagte Lynx da mit einem Mal. "Niemand sollte widersprechen, dass Sabik der Schnellste von uns allen ist. Vielleicht gar schneller als Lupus selbst!"
Der Erste Wolf schnaubte belustigt.
"Und kein Zweifel kann bestehen, dass Kornephorus der Stärkste von uns ist", fuhr der Luchs fort. "Vielleicht gar - ihr ahnt es! - stärker als Lupus. Somit legen wir es fest! Sabik Pfeilstern ist der Schnellste und Kornephorus Felsenträger der Stärkste."
Jubel brandete auf.
"Aber", fuhr Lynx fort, "Mirfak hat etwas viel Wichtigeres bewiesen. Während wir mit dem Wettkampf beschäftigt waren, hat er nicht nur zwei Leben, sondern die gesamten Andromeda-Ebenen gerettet. Von ihm sollten wir lernen, dass es nicht wichtig ist, wer der Stärkste oder der Schnellste ist. Was zählt, ist, dass wir unsere Fähigkeiten im Moment der Gefahr einsetzen."
Niemand widersprach dem weisen Titan. Und so gewannen Mirfak, Sabik und Kornephorus den Wettstreit gleichermaßen und alle Wesen der Andromeda lernten eine noch wichtigere Lektion: Dass ihr Feind nicht besiegt war und gierig auf eine Gelegenheit zur Rache wartete. Sie wussten, dass sie in ihrer Wachsamkeit niemals nachlassen durften.