So friedlich die Tage auch waren, die Finsternis war nie weit entfernt.
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Eines Tages reisten Sabik, Kornephorus und Mirfak durch die Lichterweiten, als sie ein fernes, bedrohliches Rumpeln hörten. Ohne zu zögern, eilten die drei Freunde dorthin und fanden die Reste einer Lawine vor, die eine klaffende Wunde in den schützenden Ring des Cassiopeia-Gebirges gerissen hatte.
Inmitten der schneebedeckten Berge war nun ein tiefschwarzer Riss und dahinter, so wussten sie, lauerte die Finsternis. Nun würde sie das Licht der Ebenen sehen können und herkommen.
Dass sie etwas tun mussten, was ihnen allen klar. Doch während Mirfak und Kornephorus sofort zur Lücke eilten, blieb Sabik zurück.
"Ich laufe zu Lupus, damit er alle warnt", rief Sabik Pfeilstern.
"Dafür bleibt keine Zeit", widersprach Mirfak. "Du musst uns helfen, die Lücke zu verschließen!"
"Aber ich bin nicht so stark wie ihr. Ich kann kaum einen Unterschied machen."
"Ohne deine Hilfe schaffen wir es nicht."
Davon ließ Sabik sich überzeugen und so eilten sie zu dritt in die Berge. Kornephorus, Sabik und Mirfak begannen, große Felsbrocken bergauf zu rollen, um die Lücke wieder zu schließen. Sie arbeiteten mit aller Macht, doch die Finsternis war bereits da. Schwärze drang in die Lichtebenen vor, tropfte dunkel durch die Lücke. So schnell die drei auch arbeiteten, immer mehr Dunkelheit kam herein. Kornephorus nahm sich einen besonders großen Stein und schob ihn gegen die Dunkelheit, und so hielt er ihren Vormarsch auf, während Sabik und Mirfak mehr und mehr kleine Steine um ihn türmten.
Sie wussten, dass sie nicht gewinnen konnten. Ihre Hoffnung bestand darin, dass einer der Späher ihren Kampf bemerken würde. Und tatsächlich kam schließlich Grus vorbei. Der Kranich erkannte die Gefahr sofort.
"Haltet durch", rief er den dreien zu und drehte ab. Jeder Augenblick zählte, jede Hilfe, egal wie gering, könnte ihnen wertvolle Zeit erkaufen. So glitt Grus tiefer, als er in der Ebene einige Tiere grasen sah.
Dies war die Herde des Stiers Aldeban, eines rubinroten, mächtigen Tieres, das sein Volk sogleich furchtlos zur Lücke führte. Wie sie eintrafen, halfen die Stiere sofort, Gestein zu bewegen. Keinen Atemzug zu früh, denn neben dem mächtigen Brocken, den Kornephorus hielt, waberte bereits eine zweite Welle Finsternis vorbei. Aldeban aber stieß die Hörner mitten in die Dunkelheit und stemmte die Hufe in den Boden, und so harrte er aus.
Lange Zeit kämpften Aldeban und sein Volk so an der Seite der drei Helden, und keine weitere Hilfe traf ein, während Grus quer über die Lichterweiten flog und Verbündete suchte, auf dem Weg zu Phoenix und den anderen Spähern. Doch die Wiesen waren verlassen.
Mehrere Stiere wurden von Tropfen der Dunkelheit getroffen und diese drangen durch ihr Fell zum Herzen vor. Der arme Aldeban war fast schwarz vor der Macht des Feindes. Doch es war einer der anderen Stiere, der zuerst brach. Als die Dunkelheit sein Herz überwand, verlor er zunächst die Hoffnung und trat an die Seite. Als die anderen weiterkämpften, packte ihn Wut und er stürmte auf die Helfer zu, um sie aufzuhalten. Er konnte den erschöpften Kornephorus erwischen und stieß ihm die Hörner tief in den Rücken. Der Bärensohn brüllte vor Schmerz. Sabik war rasch heran und mit einem Biss tötete er den Stier und befreite seine Seele, worauf diese und die Dunkelheit aus dem Leib entflohen. Der Schatten kehrte über die Berge zurück zur Nacht, und die Seele des Stiers war frei, um einen neuen Körper zu finden.
Doch nun wurde ihnen klar, dass ihre Position immer gefährlicher wurde. Es war unterschiedlich, wie viel Dunkelheit ein Herz verkraften konnte, doch nach und nach griffen immer mehr Stiere an. Sabik musste Kornephorus verteidigen. Nur Mirfak trug noch Steine bergauf. Kornephorus verlor den Halt am mächtigen Felsen. Weitere Stiere konnten ihn erwischen und die Furcht, als sie sahen, dass alles zu scheitern drohte, machte die restlichen Stiere nur anfälliger für die Dunkelheit.
Schließlich überwältigte der doppelte Ansturm die drei Freunde. Kornephorus stürzte mit dem großen Stein in die Tiefe, Sabik und Mirfak wurden von den Stieren zurückgedrängt. Einzig Aldeban harrte noch aus. Das letzte, was die drei Helden sahen, als sie stürzten, war der rubinrote Stier, der zornig mit den Hufen auftrat, ehe er vollständig von Dunkelheit umschlossen wurde.
Mit vereinten Kräften, geschwächt und erschöpft, erwehrten sich die drei Titanenkinder der Stiere und eilten wieder herauf. Sie rechneten jeden Moment damit, dass die Finsternis einer Sturmflut gleich ins Tal brechen würde, doch sie kam nicht. Eine dichte Wand aus Dunkelheit erwartete sie. Doch wie sie sich dieser mit Steinen näherten, hörten sie einen lauten Ruf und Licht fiel aus dem Himmel.
Da kam Phoenix geflogen, der Späher der Mitte. Das Feuer seiner Schwingen vermochte die Dunkelheit zu vertreiben.
Grus' Nachricht hatte das Zentrum der Andromeda-Weiten erreicht! Nun dauerte es nicht lange, und immer mehr Helfer kamen: Wölfe, Bären, Füchse und Hirsche, Pferde und Vögel. Alle Lebewesen, die laufen konnten, eilten dem Riss entgegen.
Gemeinsam stemmten sie sich gegen ihren Feind, und je weiter sie vorankamen, desto deutlicher hörten sie ein Lied aus den Schatten.
Wie war das Staunen groß, als sie Aldeban erblickten, den rubinroten Stier, der noch immer ausharrte, obwohl er zwischenzeitlich von Finsternis eingeschlossen gewesen war. Laut sang er Virgos Lied. Er hatte die Dunkelheit alleine daran gehindert, Andromeda zu betreten, war kein Stück zurückgewichen.
Nun kämpften alle Bewohner der Lichtebenen vereint gegen die Dunkelheit und konnten sie wieder zurückdrängen und die Lücke verschließen.
Es gab nur wenig Jubel an diesem Tag. Viele Bewohner waren im Kampf gefallen, insbesondere Stiere. Lupus und die Titanen, die natürlich auch zur Rettung geeilt waren, runzelten die Stirnen, sich bewusst, dass nicht viel zwischen ihnen und dem Untergang gestanden hatte. Und mehr Wesen waren vergiftet worden und mussten von der Finsternis gereinigt werden.
Auch Aldeban wurde untersucht. Doch wenngleich die Dunkelheit ihn attackiert hatte, hatte er sich stur geweigert, aufzugeben. So voller Hoffnung und Mut war sein Herz gewesen, dass er nicht gewankt hatte. Die Erinnerung an Virgos Gaben hatte ihm den Mut verliehen, ganz, wie Pictor und Deneb es vorausgesehen hatten.
Für diese heroische Tat erhielt Aldeban den Beinamen Rubinstern. Die Bewunderung für seine Tat war endlos, und doch war allen nun bewusst, dass die Finsternis jederzeit angreifen könnte. Die Wachen wurden verstärkt und die Stimmung im Tal des Lichts war gedrückt.
Und unbemerkt von ihnen allen, Wölfen, Titanen und Helden, war ein Teil der Finsternis ihrem Blick entkommen. Eigenständig kroch die Dunkelheit durch das Tal Andromeda und suchte ein Opfer.
Noch viel Unglück würde deswegen geschehen.