Nun lernten Mimas und Erakis die Kehrseite des Ruhms kennen.
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Als sich das Lied von ihrem Sieg über Castor und Pollux verbreitete, erhielten Mimas und Erakis Besuch. Eine Taube kam zu ihnen und bat sie um Hilfe. Wie sie den Freunden berichtete, gab es einen Fuchs, Anser, der ihnen sehr viel Ärger machte.
"Uns und den Hasen", berichtete die Taube, welche Fakhita hieß. "Aber die Hasen wagen nicht, sich zu beschweren. Doch wir können im Wald der Zeit unsere Kinder nicht mehr aufziehen, Anser jagt sie alle. Bitte, ihr habt schon einmal Füchse ausgetrickst. Ihr müsst uns helfen!"
Wie hätten Mimas und Erakis diese Bitte abschlagen können? Der Fuchs und der rote Wolf wussten nicht, was genau sie ausrichten könnten, doch sie ließen sich von Fakhita in den Wald der Zeit führen. Dort trafen sie auf andere Tauben und die Hasen, und stellten fest, dass sie alle sehr unter den Spielen des Fuchses litten. Anser war ein ausgezeichneter Jäger, der sogar in die Kaninchenbauten krabbeln und auf die niedrigen Bäume klettern konnte, um Hasenjunge und Taubenküken zu jagen.
"Wir haben keine Chance", berichtete Fakhita als Sprecherin der Tiere.
"Wieso habt ihr denn Lupus nicht um Hilfe gebeten?", fragte Erakis.
"Lupus?", rief die Taube aus. "Wir können doch nicht zum Ersten Wolf gehen!"
Da musste Erakis zustimmen. Die Titanen wollte man nicht einfach so belästigen.
"Und Lepus? Er ist doch für euch verantwortlich."
"Aber es ist der Lauf der Welt, dass Füchse kleinere Tiere jagen. Nur Anser, ihr größter Jäger, ist eine Gefahr für uns."
Erakis und Mimas tauschten einen Blick. Ihnen wurde bewusst, dass sie die einzige Hoffnung der jungen Taube - und ihrer Verbündeten! - waren.
Nun mussten sie einen Plan schmieden. Zunächst legten sie sich auf die Lauer und warteten, bis Anser erschien. Sie wollten den Fuchs in Aktion sehen und ihn studieren. Mit den Tauben und Hasen sprachen sie ab, dass diese noch einen Tag vorsichtig sein mussten, und verbargen sich dann im Gebüsch.
Sie mussten nicht lange warten, bis Anser erschien; zur Dämmerung, da es in jenen ersten Tagen noch keine Nacht im Land Andromeda gab, und Abend- und Morgendämmerung waren eins.
Schweigend beobachteten der rote Wolf und der Fuchs, wie Anser auf die Jagd ging. Er wühlte sich durch die verlassenen Bauten der Hasen und kam gefährlich nah an jene Orte, wo diese sich verbargen. Doch glücklicherweise gab er rechtzeitig auf. Er hatte offenbar nicht genug Hunger, um die mühsame Arbeit auf sich zu nehmen. Dafür begann er, an den Bäumen hinaufzuspringen. Plötzlich erklang ein durchdringender Schrei. Anser hatte Fakhita erwischt! Die panische Taube im Maul eilte der Fuchs davon.
Sofort sprangen Mimas und Erakis auf und setzten sich auf die Fährte des Fuchses.
"Was sollen wir nur tun?", rief Mimas. "Mir fällt keine List ein."
"Lass uns abwarten und sehen", riet ihm Erakis.
Eine Spur silbriggrauer Federn wies ihnen den Weg quer durch den Wald auf eine Lichtung, wo Anser anhielt. Hier lagen die Reste unzähliger Opfer des Fuchses, und viele waren kaum angefressen. Bei diesem Anblick verspürten die Freunde auf der Spur des Fuchses Entsetzen.
Anser kauerte in der Mitte der Lichtung und hob den Blick, als sie eintrafen. Fakhita lebte noch; der Fuchs hielt sie mit den Pfoten am Boden fest.
"Willkommen!", grüßte er den roten Wolf und den anderen Fuchs. "Bitte, kommt her. Bedient euch - es ist genug für alle da."
"Das sehe ich", murmelte Erakis erschüttert. Er trat vor, ohne es mit einer List zu versuchen. "Was tust du hier, Anser? Wieso jagst du, wenn du keinen Hunger leidest? Wieso lässt du die Körper hier liegen, statt ihre Seelen freizusetzen?" Denn in jenen Tagen war der Tod nicht mehr als ein kurzer Schlaf. Die Körper waren Hüllen, aus welchen die Seelen herausfuhren, um in Jungtieren neu geboren zu werden, ganz so, wie die Sternwölfe noch heute zu uns zurückkehren. Damals war es jedoch ein Gesetz. Einen richtigen Tod gab es nicht, und die Rückkehr ging viel schneller. Doch nur, wenn der Körper restlos verzehrt war, und wenn man dies den Insekten überließ, dauerte es lange.
"Sie müssen sich nur etwas gedulden", antwortete Anser. "Ich möchte mich als Jäger beweisen. Wenn ich es schaffe, sie alle auf einmal hier zu binden ..."
"Das ist dein Plan?", platzte es aus Erakis heraus. "Wie kannst du nur?"
Anser sah ihn verdutzt an. "Sagt mal, ihr seid hier, um mich aufzuhalten, oder?"
"Nein!", rief Mimas und warf Erakis einen warnenden Blick zu.
"Doch, genau dafür sind wir da", sagte der rote Wolf. "Wir wurden um Hilfe gebeten. Und wenn du nicht auf uns hörst, werden wir uns an die Titanen selbst wenden. Hätten wir geahnt, wie schlimm du es treibst, hätten wir sie von Anfang an informiert!"
"Erakis! Wir wollten doch eine List nutzen!", zischte Mimas, doch der rote Wolf erwiderte: "Dafür ist keine Zeit!"
"Wirklich?" Anser löste seinen Griff um Fakhita langsam. "Sie werden doch alle zurückkehren."
"Werden sie nicht!", widersprach Erakis heftig. "Wenn du alle Tauben und alle Hasen tötest, woher sollen dann neue Jungtiere kommen, die die Seelen nutzen können? Wohin sollen sie zurückkehren?"
Anser dachte einen Moment nach. Er ließ die Taube los. "Daran habe ich nie gedacht."
"Du musst die Körper fressen", drängte Erakis weiter. "Setze die Seelen der Beutetiere frei. Immerhin wird dies auch deine Jagdfähigkeiten verbessern. Denn die zurückgekehrten Tiere kennen ja deine Taktik und du musst eine neue finden. Indem du dich ständig mit deiner Beute misst, beweist du dich viel besser als indem du alle auslöscht, ohne ihnen eine Chance zur Gegenwehr zu geben."
Fakhita flatterte zu Mimas und Erakis, während Anser nickend den Worten des roten Wolfs lauschte. "Du hast recht, fuchsfelliger Wolf. Bitte verzeiht mir meine Tat. Ich werde mich darum kümmern, dass diese Beute noch heute gefressen wird", versprach er.
"Wiederhole den Frevel nicht, und alles wird vergessen werden", stimmte Erakis zu. "So Corvus will."
So konnte er mit Mimas und Fakhita zurückkehren. Sie berichteten den restlichen Tauben und Hasen von ihrer Einigung. Zum Dank für ihre Mühen flog Fakhita los zu einem großen Baum mit Granatäpfeln und brachte Erakis und Mimas eine der Früchte, da diese die gleiche Farbe wie das Fell der beiden Freunde hatte.
Der rote Wolf und sein bester Freund reisten alsbald zum Herbstwald, wo Corvus herrschte, und baten ihn und Lynx noch einmal um Rat. Sie berichteten von Ansers Tat und ihrer Lösung.
"Wir sollten das Gesetz allen sagen", überlegte Lynx bald laut. "Anser ist ein ehrgeiziger Jäger, doch es wird andere geben, die auf die gleiche Idee kommen. Früher oder später könnte sich das Leid wiederholen, wenn wir nicht Vorkehrungen treffen. Darum danke ich euch beiden für euren Eingriff! Ihr tatet gut daran, Anser zu stoppen, und ebenso, mit uns zu sprechen."
"Ich werde Pictor bitten, ein Lied zu dichten", schlug Corvus vor. "Die Lieder der Sänger verbreiten sich am schnellsten in Andromeda. Wenn Pictor und Deneb die Botschaft verbreiten, wird bald jeder das Gesetz kennen: Beute muss restlos verzehrt werden. Es ist die Pflicht jedes Jägers, die Seelen der Erlegten zu befreien, und außerdem darf niemand jagen, wenn sein Hunger bereits gestillt wurde." Der Rabe flog bald los und berichtete dem Sänger von der Geschichte. Pictors Lied war es, in welchem Erakis der Titel 'Granatstern' verliehen wurde, um immer an das Geschenk der Taube zu erinnern.
Mimas und Erakis kehrten derweil in ihre Heimat zurück.
"Es war gut, dass wir dieses Mal keine List versucht hatten", gab Mimas zu. "Ich glaube, die Wahrheit war in jenem Moment das Richtige."
"Manchmal müssen wir eben den Weg des Wolfes wählen, nicht den des Fuchses", sagte Erakis grinsend. "Aber lass uns hoffen, dass wir beide Wege nicht mehr im Angesicht solcher Erlebnisse wählen müssen."
Weder Mimas noch Erakis Granatstern ahnten, dass ihnen noch weitere Abenteuer bevorstanden.