Lynx' Kinder waren glücklich, doch sie spürten, dass ihnen etwas fehlte.
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Es begab sich, dass Mimas und Erakis Granatstern im Alkeswald auf die Kinder Lynx' trafen: Regulus und Algieba. Der Löwe und die Tigerin galten als Herrscher der Akazienweite. Sie waren die mächtigsten Krieger und trafen alle wichtigen Entscheidungen. Ihre Stärke war unangefochten, wenngleich manche Bären sie besiegen könnten. Doch die Bären lebten vor allem im Alkeswald, und so trafen sie selten auf die Großkatzen. Damals jedoch hatte die Anhörung von Auriga, dem Fesselleger, stattgefunden und Lynx hatte dem Gericht beigewohnt, wie es seine Art war. Dazu hatten seine Kinder ihn begleitet.
Auch Mimas und Erakis waren hergekommen, um die Verhandlungen zu verfolgen. Während die Richter, Corvus, Lynx und Ursa Minor, berieten, wie mit dem Menschen zu verfahren sei, traten Regulus und Algieba zu Mimas und Erakis. Sie hatten von der Freundschaft der beiden gehört und davon, wie sie Fakhita geholfen hatten.
"Wir haben eine Bitte", sagte Regulus nach einer Weile. "Vielleicht könnt ihr beiden uns helfen. Es geht um etwas, das unser Vater uns erzählt hat - wir würden gerne eure Meinung dazu hören."
Mimas und Erakis stimmten zu, und so brachten die beiden großen Katzen sie in ein geheimes Dickicht, wo sie ungestört reden konnten. Der rote Wolf und der Fuchs saßen Seite an Seite und warteten auf die Worte der Großkatzen.
"Es ist so ...", begann Regulus, "wenn unser Vater von Mut spricht, nennt er ihn die größte Kraft, die ein Herz besitzen kann. Mut, Freundschaft und Freiheit sind laut ihm die stärkten Mächte unserer Welt. Alles drei sind wichtige Tugenden für alle Bewohner von Andromeda."
Der Löwe und die Tigerin wollten ebenfalls gute Bewohner sein.
"Aber ihr habt euch doch nichts zuschulden kommen lassen", merkte Erakis an.
"Jedenfalls hat uns bisher noch niemand zurechtgewiesen. Aber Auriga dachte bestimmt ebenfalls, dass er nichts Falsches täte. Und wir haben gehört, wie ihr Anser zur Besinnung gebracht habt, der glaubte, sich zu beweisen. Wir möchten sichergehen, dass wir nicht ebenfalls unabsichtlich etwas Falsches tun."
"Dazu", warf Algieba ein, "möchten wir alle drei Tugenden kennen und pflegen."
Regulus übernahm wieder das Wort. "Freundschaft kennen wir. Wir haben viele Freunde und wissen, dass man ihnen treu beistehen muss. Frei sind wir ebenfalls. Wir lassen uns nicht vorschreiben, wie wir zu denken oder fühlen haben. Wir richten uns nie nach anderen."
"Und ... Mut?" Mimas legte den Kopf schief.
"Der ist das Problem", sagte Algieba. "Wir haben uns immer für mutig gehalten, immerhin scheuen wir keinen Kampf und keine Gefahr. Aber Vater sagte, dass man sich fürchten muss für Mut und ..." Sie warf einen Blick zu ihrem goldenen Bruder, und er zu ihr. Wie aus einem Maul sagten sie: "Wir fürchten uns nicht."
"Nicht?" Mimas spitzte die Ohren. "Nicht mal ein kleines Bisschen?"
"Nein. Nie und vor nichts." Regulus legte die Ohren an. "Vater sagt, es kann keinen Mut ohne Angst geben, und dass der, der nicht fürchtet, so weit vom Mut entfernt ist, wie man nur sein kann. Würdet ihr dem zustimmen?"
"Nun ..." Mimas tauschte einen Blick mit Erakis. "Ja, schon."
"Könnt ihr uns dann helfen?", bat Algieba. Die rote Tigerin sah sehr traurig aus. "Wir möchten uns fürchten können. Nur so können wir erfahren, ob wir mutig sind."
Nun diskutierten die vier lange. Zunächst darüber, ob Löwe und Tigerin sich ihrer Sache sicher waren. Aber Lynx' Kinder waren entschlossen. Sie wollten die Angst kennenlernen, um sich ihr stellen zu können. Dann ging es darum, was sie fürchten könnten: Einen Kampf gegen viele Bären vielleicht, oder eine Lawine. Die Finsternis - ja, die fürchteten sie, doch es gab keine Möglichkeit, sich ihr zu stellen, jedenfalls nicht, ohne Andromeda in Gefahr zu bringen. Doch alles andere fürchteten die großen Katzen nicht.
"Es ist vielleicht keine leichte Aufgabe. Aber könnt ihr etwas finden, was uns Angst einjagt?", baten Lynx' Kinder.
Mimas und Erakis stimmten zu. "Wir werden versuchen, was wir können. Solange die Verhandlungen andauern, versuchen wir es."
Nach diesem Versprechen trennten sie sich und die beiden Freunde überlegten, wie sie den Kindern des Luchses helfen könnten. Sie gingen vieles durch, was sie ängstigte, doch schließlich war es die Verhandlung um das Schicksal der Menschen selbst, das ihnen den Hinweis gab.
Da war einmal die Furcht vor dem Unbekannten, was Auriga in die Lichtebenen mitgebracht hatte. Der Fesselleger jagte den Titanen selbst Angst ein, weil sie nicht wussten, wozu er fähig wäre. Doch statt ihn zu verbannen, hielt eine andere Furcht sie zurück, eine, die noch größer war: Die Furcht, dem Bärenhüter Bootes Unrecht zu tun, der mit der Rettung der Hunde so ein großes Herz bewiesen hatte.
Da endlich kamen Mimas und Erakis auf ihren Plan. Sie gingen zu Lynx und berichteten ihm vom Streben seiner Kinder. Lynx, stolz auf seine Nachkommen, versprach, dem Fuchs und dem roten Wolf zu helfen.
Als erstes baten sie um eine von Aurigas Fallen. Vulpecula und Lynx hatten diese an sich genommen, um sie zu untersuchen, und mehrere von ihnen bereits ungefährlich gemacht. Diese Fallen nahmen sie an sich und bauten einen Hindernislauf in einem düsteren Teil des Waldes. Dann bat Mimas darum, zu erfahren, welches Wesen die liebste Schöpfung der beiden Großkatzen war.
Dies war der Nebelparder, den Regulus und Auriga gemeinsam erschaffen hatten: Subra. Als Mimas und Erakis sie in ihren Plan einweihten, stimmte Subra zu, daran mitzuwirken.
Nun holten sie Regulus und Algieba und führten sie vor den Parkour, den sie geschaffen hatten.
"Das ist alles, was uns Furcht einjagen soll?", fragte Regulus langsam. "Ich gebe zu, die Fallen sind unheimlich, doch mit genug Zeit, sie zu untersuchen, werden wir ihnen beikommen."
Algieba stimmte zu. "Wir würden vorsichtig sein, aber kann dies wirklich die Furcht sein?"
"Wartet ab", sagte Erakis lächelnd. "Denn es gibt noch einen Haken. Nicht ihr werdet euch dem Lauf stellen, sondern eure geliebte Subra!"
Ein Schauer jagte durch das Fell von Löwe und Tigerin, als der Nebelparder hervortrat. Sie versuchten verzweifelt, sie umzustimmen, doch Subra beharrte auf ihrer Meinung. Schließlich mussten die Geschwister ihre Schöpfung ziehen lassen, doch sie folgten neben dem Pfad und riefen unablässig ihren Namen.
Natürlich drohte keine echte Gefahr, auch wenn Regulus und Algieba in diesem Moment nicht hinterfragten, ob Mimas und Erakis wirklich so weit gehen würden. Denn sie sahen Subra zwischen dem Eisen und glaubten die Fallen echt. Dennoch respektierten sie den Wunsch der Parderin und taten nichts, um Subra zu helfen. Erst nach einer langen Weile saßen die beiden glücklich an ihrer Seite.
Mimas und Erakis traten lächelnd zu Löwe und Tigerin.
"Was habt ihr euch dabei gedacht?", brüllte Algieba. "Wir konntet ihr Subra in Gefahr bringen?"
"Es drohte keine Gefahr", beruhigte die Nebelparderin ihre Schöpfer.
Mimas bewies, dass die Fallen nicht mehr gefährlich waren, indem er hinein und hinaus sprang. "Aber so", sagte der Fuchs, "habt ihr erfahren, wie sich Angst anfühlt. Die Angst davor, jemanden zu verlieren, der einem nahesteht."
"Ich verstehe", murmelte Algieba nachdenklich. "Ich schätze, davor fürchtet sich jeder."
"Und haben wir bestanden?", fragte Regulus. "Waren wir mutig? Denn es fühlt sich nicht so an."
"Ihr wart sogar sehr mutig", sagte Erakis. "Ihr habt euch sehr gefürchtet, zum ersten Mal, und doch habt ihr den Mut aufgebracht, Subra gehen zu lassen."
"So fühlt Mut sich an?", fragten die Kinder Lynx'.
Mimas und Erakis nickten.
"Es ist kein schönes Geschenk", sagte Erakis. "Doch ihr habt darum gebeten."
"Und wir danken euch", sagte Regulus. "Ihr habt uns gelehrt, was Furcht ist, wie wir euch gebeten haben. Niemals würden wir darüber klagen!"
Bald darauf waren die Verhandlungen über Auriga vorbei. Die Kinder Lynx' und die beiden Freunde trennten sich in Frieden und kehrten in ihre jeweilige Heimat zurück. Doch niemals vergaßen sie die besondere Bedeutung der Furcht, jene Lektion, die sowohl die Großkatzen als auch Fuchs und Wolf hier gelernt hatten.