Es sind die Stillen, die am meisten hören.
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In den letzten Tagen des Lichts verbarg sich die Dunkelheit gut vor dem Blick der Titanen. Sie war in Corvus' Reich und wie sich zeigen sollte, war der Rabe weniger aufmerksam als er sein sollte. Doch schon lange Zeit herrschte Frieden und niemand glaubte, dass Gefahr drohen könnte.
Zu dieser Zeit streiften Deneb und Pictor gemeinsam durch die Lichterweiten. Sie waren auf der Suche nach Erakis Granatstern, denn noch immer wusste niemand etwas über dessen Verbleib. Für ein Lied über den Fuchs wollten der Sänger und der Dichter Erakis' Erinnerungen an seinen Freund hören.
Auf der Spur des roten Wolfes näherten sie sich der Stelle, wo die Finsternis eingedrungen war, und hier stießen sie auf das Lager der Dunkelheit und all ihrer Getreuen.
Sofort ergriffen die Brüder die Flucht, doch wenngleich sie denselben Vater wie Sabik Pfeilstern hatten, waren sie nicht so schnell wie der Held. Deneb und Pictor wurden von den Schlangen gefangen genommen und vor die Dunkelheit gezerrt.
Furcht ergriff sie, als sie sich vor ihrem Feind wiederfanden und erkannten, dass die Finsternis schon einige Zeit in Andromeda waltete. Deneb und Pictor erblickten den schlummernden Draco und wussten, dass diese Kreatur die Lichterwiesen vernichten konnte. Sofort wussten sie, dass Lupus und die Titanen, ihre Kinder und Verbündeten und Geschöpfe gewarnt werden mussten.
Doch die Dunkelheit rammte ihre drei Klauen rings um die Brüder in die Erde und setzte sie so gefangen, auf dass niemand gewarnt werden könne.
Der Käfig war so dunkel, dass man nicht hineinsehen konnte. Dafür fiel ein winziges Bisschen Licht herein. Pictor, in dessen Seele die Macht der Dichtung lag, schmiedete einige Verse, und Deneb sang sie für seinen Bruder, und ihre gemeinsame Macht öffnete die Lücke weit genug, dass sie hinausschlüpfen könnten.
Nun schnüffelte die Finsternis stets am Käfig und prüfte, dass die Wölfe noch darinnen waren. Eine Flucht würde sie sofort bemerken, das war beiden Brüdern klar, und dann würde man sie erneut einfangen und besser festsetzen, sodass sie nicht mehr fliehen konnten. Doch fliehen mussten sie, um Lupus zu warnen. Schweren Herzens erkannten sie, dass sie sich trennen mussten. Nur einer von ihnen würde entkommen und der andere würde im Käfig der Finsternis zurückbleiben, um die Dunkelheit so lange wie möglich zu täuschen.
Vielleicht würde die List so gut klappen, dass der Bruder, der zurückblieb, gerettet werden konnte, doch da sie keine Füchse waren, waren die Brüder sicher, dass sie keine guten Listen spinnen konnten. Vulpecula hätte vielleicht einen Weg gefunden, doch Vulpecula war nicht hier!
Auch war ihnen klar, wer gehen musste, obwohl sie lange deswegen stritten. Doch Pictor war stumm, nur Deneb konnte ihn verstehen. Und so war auch nur Deneb fähig, die Titanen zu warnen.
Schließlich konnten sie nicht länger zögern und nahmen schweren Herzens Abschied. Pictor gab seinem Bruder ein letztes Lied mit, auf dass dessen Zeilen die Dunkelheit von ihm fernhalten mögen.
Pictors letztes Lied:
Ich wollt' von Taues Kuss dir singen,
von Windes Ruf, vom Vogelflug.
Es sollten tausend Lieder klingen
statt Fuchses List und Schattentrug.
Lass uns vom Morgen nicht mehr reden,
die Welt ist heut' so hell und frei.
Du, mein Bruder, du sollst leben,
auf dass dies' Lied dir Rettung sei.
O liebste Heimat, Lichterweit!
Dir schenkt' ich alle meine Lieder.
Mein Bruder, wenn die Welt geheilt,
dann sehen wir einander wieder.
Deneb kroch durch die Öffnung und rannte los.
Nicht viel später schnupperte die Finsternis wieder am Käfig, doch da sie einen Wolf roch, glaubte sie alles in Ordnung und gab sich zufrieden. Auch beim zweiten Mal argwöhnte sie nichts, doch beim dritten Mal schließlich erkannte sie, dass der Geruch schwächer geworden war. Sie zog ihre Klauen zurück und sah, dass nur noch ein Wolf in der Falle saß.
Sie schickte ihre Diener Deneb nach und dieser sah die Horde nahen. Voller Trauer verstand er, dass sein Bruder verloren war, und lief schneller. Wie die Diener der Dunkelheit ihn einzuholen drohten, hub Deneb an, zu singen. Er sang Pictors Lied und dessen Klang hielt die Wesen der Dunkelheit zurück, sodass sie unverrichteter Dinge heimkehren mussten.
Da zürnte die Finsternis sehr und verschlang Pictor; seitdem sitzt er in ihrem Magen gefangen. Noch immer brennt in ihm das Licht der Dichtung, und er spendet jenen Trost, die später von der Dunkelheit verschlungen wurden. Doch da er stumm ist, kann er sein Licht nicht mehr mit anderen teilen.
Deneb erreichte Lupus jedoch und konnte ihn und die Titanen vor der Gefahr warnen. Eilig sandte Lupus seine Späher und überzeugte sich von der Wahrheit der Worte. Dann rief er alle Krieger der Andromeda zusammen und hieß sie, sich auf den Krieg vorzubereiten.
Zunächst aber sprach er mit Corvus, in dessen Reich die Finsternis lauerte, und fragte ihn, wie der Rabe die Gefahr nicht hatte erkennen können. Corvus musste gestehen, dass er sich zu sehr auf den Gerichtssaal konzentriert und darüber seinen Spähdienst vernachlässigt hatte.
"Jeder soll sehen, welcher Seite du dienst", sprach der Erste Wolf zornig. "Denn mit deinem Verrat hast du der Dunkelheit geholfen. Du hättest Pictor retten können, es hätte einzig deine Augen dafür gebraucht."
Dann hub Lupus zu singen an. Er sang das weiße Gefieder des Rabens schwarz, und dies ist der Grund, warum Raben und Krähen noch heute die Farben der Nacht tragen.
Nun versammelten sich alle Krieger der Andromeda um Lupus. Nur drei Tiere weigerten sich, seinem Ruf zu folgen. Der erste von ihnen war Apus, der Paradiesvogel, der beim Streich der Zwillinge mitgewirkt hatte. Er hatte Corvus' Strafe gesehen und fürchtete sein eigenes Schicksal, hatte er doch längst von dem Eindringen der Finsternis gewusst und nichts gesagt.
Wie sie ihn fliehen sahen, schlossen sich ihm die Giraffe und der Tukan an. Sie stahlen sich in den hintersten Winkel der Sternwiesen und verbargen sich vor beiden Seiten, und sind seitdem überall als Feiglinge bekannt.
Deneb nun würde nie wieder ein Lied singen. Nicht, bis Pictor befreit wäre. Somit war die erste Schlacht bereits verloren, bevor der Krieg begonnen hatte, denn der Dichter und der Sänger waren beide verstummt.
Deneb sang nicht mehr, und er ging meist einsam durch die Weiten. Ab und zu, wenn Nebel aus den Wiesen steigen oder ein sanfter Regen niedergeht, hört man ihn jedoch leise rufen. Manche schwören gar, dass sie ihn mit jemandem reden gesehen haben, als würde er seinen Bruder trotz der großen Entfernung zwischen ihnen noch manchmal hören.
Mein Bruder, wo der Nebel weilt,
dort sehen wir einander wieder.