Für uns Wölfe hat der Schnee eine große Bedeutung. Aus unserer Perspektive erscheinen die Flocken nämlich wie Sterne. Oft werden die echten Gestirne zunächst durch dichte Wolken verdeckt, bevor aus diesen tanzend und weiß die Sternschatten rieseln - Schneeflocken.
Es heißt, dass die Seelen der Verstorbenen auf diese Weise aus den Sternwiesen zurück in unsere Welt kommen. Jede Flocke ist ein Tier, das heimkehrt, um sich dem Kreislauf der Großen Jagd wieder anzuschließen, jenem ewige Tanz von Jäger und Gejagtem.
Diese Seelen suchen auf der Erde eine neue Heimat. Sie können Jahre ohne Gestalt überdauern, im Wind oder auf dem Wellenschaum, doch nicht umsonst werden unsere Welpen meist zum Ende des Winters geboren.
Ein junger Welpe ist blind, taub und hilflos. Ob er überlebt, liegt in den Pfoten des Rudels, das für die Mutter und die Welpen sorgen muss. In diesen ersten Wochen trägt ein Jungtier einen zufälligen Namen wie Tatze, Graufell oder Knirps. Und dieser Name bleibt bestehen, auch wenn die Welpen älter werden und beginnen, ihren Platz im Rudel zu finden. Erst, wenn die Flocken wieder fallen, kommt es zum Ritual des Erwachsenwerdens. In dieser Zeit, wo die Seelen eine zweite Chance haben, in einen jungen Wolf einzuziehen - obwohl sie meist bereits im Welpen geschlummert haben - treten die Weisen des Rudels zusammen und beraten. Ein junger Wolf wird getestet und beobachtet, und zuletzt erhalten alle Welpen des Rudels gemeinsam ihre wahren Namen. Namen von Kriegern und Beschützern, von Weisen und Müttern, Namen aus längst vergessenen Tagen. Diese Namen besagen, wessen Geist hinter den Augen der jungen Welpen ruht, wer heimgekehrt ist nach Jahren oder gar Jahrhunderten in den Sternwiesen, um wieder mit Seinesgleichen zu rennen.
Mit dem neuen Namen gelten die Jungwölfe als erwachsen, ihre Zeit des Spiels ist vorbei. Von nun an müssen sie ihren Platz im Rudel verdienen und behaupten wie jeder von uns, und kein Vergehen kann mehr damit entschuldigt werden, dass sie bloß Welpen wären. Doch lange vor diesem Tag haben sie bereits begonnen, ihre Position zu finden. Nun, mit einem Namen, der ein großes Erbe in sich trägt, haben sie die Kraft, sich dem Leben als Wolf zu stellen.
Unter den Königswölfen, jenen Nachkommen der Sternwölfen, die sich noch vor den Menschen verstecken können, bleibt es nicht bei diesem Namensritual. Denn gelegentlich kehrt einer der größten Sternwölfe zurück, von jenen, die das Cepheus-Meer gesehen haben, und wie sie ihren neuen Namen im Kreis des Rudels erhalten, färben sich ihre Augen rot. Auch die Wölfe aus den Rudeln von Orion und Azimut erhalten eine neue Augenfarbe, die uns beweist, dass sie wirklich zurückgekehrt sind und wieder in der Welt Mimosa wandeln.
Darum, mein Welpe, zweifele nicht. Wenn du die Flocken fallen siehst, dann naht die Zeit deiner Seelenwahrheit, dein Namenstag, zu dem du deinen Platz im Rudel und in den Legenden zugleich erhältst. Wer weiß, welcher Freund uns hier besuchen kam, der lange vermisst wurde.