Während ihr Bruder Sabik sich als Held hervortat, hatten Pictor und Deneb andere Pläne ...
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Die beiden anderen Söhne des Canis Majoris hatten keine Lust, sich an Wettstreiten oder Rennen zu beteiligen, sich mit anderen zu messen oder gar zu siegen - wenngleich ihnen vermutlich manch ein Sieg sicher gewesen wäre.
Stattdessen verbrachten sie viel Zeit mit ihrer Cousine, Virgo, der Tochter von Canis Minor. Diese Wölfin zog durch die Lichterweiten von Andromeda und verbrachte ihre Zeit damit, Blumen, Schmetterlinge und Glühwürmchen zu erschaffen. Sie machte diese Welt zu einem noch schöneren Ort. Ihre Cousins waren der Meinung, dass sie damit einen wichtigen Beitrag leistete, der leider kaum gewürdigt wurde. Jedermann sprach über Sabiks Geschwindigkeit, Kornephorus' Kraft und Mirfaks großes Herz, aber niemand redete über Virgos Arbeit, wenngleich diese allen Bewohnern nutzte. Denn der Anblick der schönen Blüten verhinderte, dass die Finsternis von jenseits der Berge die Herzen der Bewohner Andromedas berührte.
Ja, die Finsternis besaß noch eine Macht, die die Titanen, ihre Kinder und Verbündeten berühren könnte. Lynx hatte die Gefahr erkannt, und Virgo, die viel Zeit mit dem Luchs verbrachte, hatte mit ihrem Beitrag begonnen.
"Es ist nicht schlimm, dass niemand darüber redet", sagte sie ihren Cousins. "Es geht mir nicht um Ruhm. Das Wichtige ist, dass ich die Herzen mit ein wenig Licht berühre."
Aber Pictor und Deneb fanden es schade und störten sich sehr an dieser Tatsache. Die Wölfe der Lichterweiten sangen jeden Tag zur Dämmerung von den großen Taten der drei Helden, Sabik, Kornephorus und Mirfak, aber kein Lied wurde über Virgo gesungen.
Nun war Deneb ein begnadeter Sänger, der jedes dieser Lieder singen konnte. Pictor hatte zu vielen der Texte beigetragen, denn er besaß ein Talent für Worte, konnte wunderbare Zeilen schmieden und drückte oft ein Konzept ausgesprochen treffend aus - wenngleich Deneb stets für ihn übersetzen musste, denn nur er konnte seinen Bruder verstehen.
Während sie ihrer Cousine folgten, begannen die Brüder, einen Plan zu schmieden. Die Idee kam fast von selbst. Pictor besaß viele lose Zeilen über Virgos Arbeit im Kopf und war nun entschlossen, sein erstes eigenes Lied zu dichten, und Deneb würde es selbstverständlich singen.
Drei Tage und drei Nächte arbeiteten die Brüder an den Zeilen und stellten schließlich ein wunderschönes Lied fertig.
Virgos Lied:
Unsere Heimat kennt manch einen Held:
Den Wolf, der schneller als alle rannt',
der Bär, an dem jeder Felsen zerschellt',
und Lupus, der Licht in der Finsternis fand.
Sie ließen die Wurzeln der Erde erbeben,
und mächtige Zeilen besingen ihr Leben.
Von einer jedoch erzählt man sich nicht:
Leise und sanft wirkt sie gerad' außer Sicht.
Doch gibt es von ihr so Vieles zu sagen!
Verkennen wir nicht ihrer Arbeit Gewicht,
und üben nun Dank für Virgos Gaben.
Glühkäfer nachts uns'ren Weg erhellt',
Schmetterling folgt der Blumen Band –
So hat sich ihr Zauber zum Großen gesellt
und wirkt dort verborgen und unerkannt.
Ob Vogelsang oder frühe Zibeben,
ob Spinnen, die schimmernde Netze weben –
Ihr Werk ist Gestalt geworden' Gedicht.
So erfüllt sie tapfer, was sie sieht als Pflicht,
und will weder Dank noch Ruhm dafür haben.
Lass dich nicht täuschen, weil es so schlicht
und sei voller Dank für Virgos Gaben.
Überall unter dem Himmelszelt,
unter Sträuchern an Flusses Rand,
auf Wiesen und auf weitem Feld,
auf Bergesgipfel, am Meeresstrand,
können wir finden, was sie uns gegeben
an leuchtenden Blüten und Silberreben.
Ein im Verborgenen wachsendes Licht,
verbirgt vor der Welt noch scheu sein Gesicht.
Und doch könn' sich alle am Schimmer laben,
der flüsternd zu jedem Herzen spricht.
Und darum sei Dank für Virgos Gaben.
Denn da ist Gefahr in uns'rer Welt,
lauert so gierig auf dieses Land.
Die Macht, vor der jede Hoffnung fällt,
ein düsterer, schlingender, zorniger Brand.
Würde sie kommen, bliebe nur, aufzugeben,
es wäre das Ende für all unser Streben!
Wär' da nicht ein Wolf, der die Nacht zerbricht;
welche, wenn sie gewänne, die Welt vernicht',
und nichts hinterließe als Asche und Narben!
Gegen sie die Kraft der Wölfin ficht.
Wie ist da kein Dank für Virgos Gaben?
Die Wölfin, die sich der Dunkelheit stellt,
erschafft, was an Liebe sie stets empfand,
die unsere Herzen im Lichte hält,
wird doch nirgendwo als Heldin genannt.
Dabei kann ihr Licht uns zur Freude erheben,
lässt uns vor Glück gar singen und schweben!
Wie mächtig ist auch das kleinste Licht,
das Trauer heilt und Kriege schlicht'
und mit uns steht an allen Tagen!
Für Schönheit schärft es jetzt uns're Sicht.
Doch da ist kein Dank für Virgos Gaben.
Ich ging heute böse mit uns ins Gericht,
doch von ihr zu berichten ist meine Pflicht.
Von jener, dank der wir zu hoffen wagen,
dass niemals siege die Nacht über Licht.
Drum sei voller Dank für Virgos Gaben.
Während Pictor und Deneb sich die Weise gegenseitig vorsangen, um es sich einzuprägen, kam gerade Lukida vorbei, das Einhorn, Gefährtin von Pegasus. Das magische Pferd folgte den Klängen verzückt und gesellte sich zu den beiden Wölfen. Bald kamen Kentaur und Kitalpha, die beiden Fohlen, und nach ihnen Pegasus. Aquila, der Späher des Sommers, bemerkte die Versammlung und rief die anderen Vögel herbei und sogar die Leuchtkäfer kamen hervor. Ehe sie sich versahen, waren Deneb und Pictor das Zentrum einer großen Versammlung, die immer weiter wuchs.
Viele Lieder wurden an diesem Abend gesungen, die von den Abenteuern in Andromeda erzählten. Immer wieder wurde das neue Lied von Virgo wiederholt. Die Wölfin selbst kam erst spät dazu und erstarrte, als sie bemerkte, wie alle sie mit neuem Respekt ansahen.
Bei dieser Versammlung stellten viele Bewohner von Andromeda fest, dass sie von manchen Ereignissen nicht gehört hatten - etwa von dem Streich der Zwillingsfüchse, von dem Erakis und Mimas zu berichten wussten, um die Gesellschaft zu erheitern.
"Es wäre doch schade, wenn all diese Lieder in Vergessenheit geraten würden", stellte Virgo leise fest, vielleicht in dem Bemühen, ihrem neuen Ruhm zu entkommen. Sie war eine sehr scheue Wölfin, die die Aufmerksamkeit lieber von sich lenken wollte. Deshalb schlug sie vor, regelmäßige Versammlungen zu veranstalten, bei denen all die neuen Lieder ausgetauscht und alte wieder in Erinnerung gerufen wurden.
Ihr Plan überzeugte alle, und so wurde der Tag als Beginn dieser neuen Tradition festgelegt. Und seitdem versammeln sich die Wölfe jährlich in einem großen Rudel, aus allen Ländern, und teilen ihre Lieder miteinander.
Wie sich herausstellte, waren Lieder auch ein Weg, neues Licht in den Herzen der Wesen zu entfachen. Singen und Dichten hielten die Finsternis fern und die Erinnerung an frühere Taten konnte auch in dunklen Zeiten Hoffnung erwecken. Nicht, dass die Bewohner noch dunkle Zeiten kannten. Doch Lupus warnte sie, dass die Finsternis eines Tages zurückkehren könnte, also sah Virgo keinen Schaden darin, neue Lichtquellen zu finden, ehe es zu spät wäre.
Auf diese Weise sorgte sie auch dafür, dass die Geschichten der alten Welt überdauerten, und Pictor dichtete noch viele Lieder, über große Taten und kleine Gesten, damit sie niemals vergessen werden.