Kassia starrte den Beutel in ihren Händen an. Während Foxy, Nokori und Ashley nicht weit entfernt an einem Beerenbusch arbeiteten, schossen ihr tausende von Gedanken durch den Kopf.
Mikail hatte diesen Beutel genäht. So, wie der geschickte Handwerker unzählige nützliche Sachen für sie gefertigt hatte. Kein Wunder also, dass Thanatos entschieden hatte, Mikail das Gewehr bauen zu lassen. Henry, ihr anderer Handwerker, war zwar kräftig und ausdauernd darin, große Lasten zu schleppen, aber ihm fehlte Mikails Genie.
Kassia schloss einen Moment die Augen, als sie an Mikail zurück dachte, an das Zittern in seiner Stimme, als sie entdeckt hatte, dass er in der von ihm selbst gebauten Hütte eingesperrt war.
Sie vermisste Mikail. Seit sie ihn befreit hatte, hatte sie keine Spur mehr von ihm gesehen. Sie hoffte inständig, dass er noch irgendwo da draußen war, nicht gefressen oder verletzt. Und dass er nicht fort gerannt war, dass er sie nicht im Stich ließ.
Aber wenn Mikail noch in der Nähe wäre, hätte er doch merken müssen, dass Thanatos verschwunden war. Wieso kehrte er dann nicht zurück?
Sie hob den Blick und sah in den Wald um sich herum, als könnte sie Mikail dort irgendwo entdecken. Er hatte ihr immer Kraft gegeben, während dieses furchtbaren Abenteuers im Land der menschenfressenden Reptilien.
Warum ließ Mikail sie jetzt im Stich?
„Kassia?“, ertönte Foxys Stimme und riss sie aus ihren Gedanken. Kassia sah auf und merkte, dass sowohl die dürre Foxy, als auch Nokori und Ashley herüber sahen.
„Tschuldigung“, murmelte Kassia und beugte sich über den Beerenstrauch direkt vor sich. Sie wusste, dass sie mehrere Minuten lang einfach ins Nichts gestarrt hatte.
Sie stöhnte leise, als sie sah, wie die drei anderen zu ihr kamen. Kassia hatte keine Lust, über irgendwas zu reden oder den dreien zu erklären, was sie dachte – die Wahrheit würde insbesondere bei Nokori, die Schuld an Mikails misslicher Lage gewesen war, auf taube Ohren stoßen. Und lügen wollte Kassia auch nicht, das konnte sie nicht.
Sie dachte an Mikail und die Art, wie er sich die Brille zurück auf die Nase geschoben hatte. Aus irgendeinem Grund gab ihr dieses Bild neue Kraft. Er würde sie nicht im Stich lassen, nicht Mikail.
„Was ist denn los?“, fragte Nokori mitfühlend. Die Kriegerin, deren Hauptaufgabe es war, die Sammler vor hungrigen Monstern zu warnen, hatte schulterlange, leicht gelockte Haare von der Farbe von Kastanien und blickte Kassia aus ihren blaugrauen Augen besorgt an.
„Nichts. Ich habe nur … nachgedacht“, meinte Kassia ausweichend.
„Du machst dir Sorgen, oder? Ist ja auch eine beschissene Situation“, meinte Foxy, ein unglaublich zierliches, blondes Mädchen, das für ihre Statur einen unwahrscheinlichen Appetit entwickeln konnte.
Ashley stand wie immer im Hintergrund, lächelte schüchtern und schwieg, die Augen hinter einem Vorhang ihrer kurzen Haare verborgen.
„Wegen Thanatos?“, fragte Nokori jetzt und Kassia nickte nach einem kurzen Zögern. Es war keine direkte Lüge, denn immerhin war Nokori von allein zu dieser Schlussfolgerung gekommen.
„Ja. Schöne Scheiße, was?“, meinte Foxy. „Ich dachte irgendwie, der wäre unzerstörbar. Wisst ihr noch, wie der ständig hinter einem aufgetaucht ist?“
„Oh ja“, meinte Kassia. Der kräftige, dunkelhäutige Thanatos, der so stark und muskulös war, dass vermutlich sogar Bären vor ihm geflohen wären (wenn es hier Bären gegeben hätte und diese nicht nur in Kassias Erinnerung existierten), hatte sich stets an sie heranschleichen können und war wie aus dem Nichts aufgetaucht. Es war schwierig, sich etwas vorzustellen, dass Thanatos davon abhielt, zu ihrem Lager zurückzukehren und weiterhin als Tyrann über die kleine Gruppe zu herrschen.
Es sei denn – Kassia blieb vor Schreck das Herz stehen. Was, wenn Thanatos in den Sumpfwäldern auf Mikail getroffen war? Irgendwo dort draußen, wo es keine Zeugen für das Schicksal des Handwerkers gab. Sie sah Mikail vor sich, grob an einem Baumstamm gefesselt, und ihm gegenüber den bedrohlichen Schatten von Thanatos, dieses Kriegers mit seiner dunklen, von Narben gezeichneten Haut und den langen, schwarzen Haaren, die Augen glitzernd wie die eines Raubtieres.
„Hey, Kassia!“, sagte Nokori. Kassia spürte ihre Hand auf der Schulter und merkte erst jetzt, dass sie zitterte und gegen die aufsteigenden Tränen ankämpfte. Mikail! Sie musste etwas tun!
„Ich bin mir sicher, dass er sich nur verlaufen hat. Den bringt so schnell nichts um.“
Nokori lächelte beruhigend.
Kassia brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass Nokori immer noch von Thanatos sprach. War Mikail denn allen anderen egal? Machte sich keiner Sorgen um ihn?
Sie trocknete ihre feuchten Augen und nickte. „Ja. Bestimmt.“
Kassia lächelte schwach und brachte Nokori schließlich dazu, mit Foxy abzuziehen.
Ashley blieb schweigend in ihrer Nähe stehen und sah sie einfach nur an. Nein, sie sah sie nicht einmal direkt an, sondern blickte vielmehr nur ab und zu schüchtern in Kassias Richtung, während sie tat, als würde sie nach Beeren suchen.
Kassia nahm ihren eigenen Beutel und begann, Beeren einzusammeln. Schweigend arbeitete sie sich mit Ashley vorwärts, die eigentlich eine Späherin war – schnell und leise, ideal, um neue Gebiete zu erforschen.
Sie hielten sich in Sichtweite von Nokori und Foxy. Falls irgendetwas angriff, würden die jeweils anderen ihnen zu Hilfe eilen können. Sie und die Dinosaurier, die sie bisher gezähmt hatten. Ein ganzes Stück hinter Nokori graste das Dreihorn Scaramouche gemütlich vor sich hin, schwer beladen mit Körben voller Beeren. Ein Stück hinter Scaramouche hoppelte die riesige Kröte namens Umbridge vor sich hin und sammelte ebenfalls Beeren, und Galileos kleiner Parasaurus namens Smiley tollte zwischen den größeren Tieren umher und machte alles, außer das, was er tun sollte.
Kassia betrachtete die riesigen Tiere eine Weile. Falls irgendetwas sie angriff, würden auch Scaramouche und Umbridge angreifen. Im Grunde konnte ihnen nicht mehr besonders viel in diesem Land gefährlich werden. Sie hatten sogar ein riesiges Krokodil gezähmt!
Aber wie wäre es, völlig auf sich gestellt zu sein, ohne Gruppe, ohne Dinosaurier? Wie sollte Mikail überleben?
Kassia musste hoffen, dass Mikails Einfallsreichtum ihn retten würde. Mikail war intelligent genug, um einen sicheren Unterschlupf zu bauen, um Fallen aufzustellen und alles weitere.
Sie hoffe es so sehr, dass der Gedanke schmerzte. In Gedanken völlig abwesend fasste sie in einen Dornenstrauch und stach sich in die Finger.
Der Schmerz brachte sie zurück in den Sumpfwald, alleine bis auf Ashley und in einiger Entfernung Nokori und Foxy mit den Sauriern.
Alleine unter Menschen, denen sie alle möglichen Gemeinheiten zutrauen musste.
Sie sah auf die winzigen Wunden an ihren Fingern. Und dann war da noch Drachenblut, das andere Lager. Die Menschen von dort hatten sie bereits einmal angegriffen – vielleicht würden sie das wieder tun.
Kassia schloss die Augen für einen Moment. Es wurde ihr langsam alles zu viel. Sie sammelten sich mit Beeren und Fleisch durch den Tag, aber im Grunde kam sie sich vor, als wäre sie in einem Lager voller Eintagsfliegen. Die ganze Welt schien sich gegen sie verschwören zu wollen.
Sie wünschte sich, dass Mikail zurückkehren würde. Sie vermisste ihn.