„Ich kann es nicht fassen!“, stammelte Henry, während er Lucy den Berg hinauf folgte. Der Mann schnaufte bereits wie ein Blasebalg und fand trotzdem noch Zeit für sinnentleertes Geschwafel. Lucy verdrehte die Augen und stöhnte lautlos. Doch damit ihr Plan auf jeden Fall aufging, musste sie noch eine Weile schweigen.
„Sie hat Drachenblut verraten, wie sie die Dämpfe umgehen können. Das Gift war unser einziger Schutzwall! Wir sind geliefert! Sie werden uns überrennen. Warum – warum bist du so unbesorgt?“
Lucy hörte, dass Henry stehen geblieben war. Sie drehte sich um und sah ihm direkt in die Augen: „Wir sind auch vorher ohne Liara zurechtgekommen. Diesmal schaffen wir das auch. Und du liegst falsch, das Gift war bei Weitem nicht unser einziger Schutz. Von allem anderen ahnt Liara nichts.“
„Du … du hast damit gerechnet, dass sie uns verrät?“, stammelte Henry.
Lucy atmete tief durch. „Du hast wochenlang zusammen mit Mikail gebaut. Hast du ihn nicht, wortwörtlich, für einen „guten Kerl“ gehalten? Ihm vertraut? War er nicht unser Streitschlichter, immer bemüht, uns das Leben angenehmer zu gestalten?“
Henry nickte perplex.
„Und Kassia – sie war ja wohl unsere gute Seele, manchmal etwas traurig, immer bemüht, keinen Streit aufkommen zu lassen. Stimmt doch, oder? Kassia und Mikail, unsere beiden Engel, das perfekte Paar, wenn man so will.“
„Ja, aber …“, Henry schien zu ahnen, worauf Lucy hinaus wollte.
„Seit die beiden uns im Stich gelassen habe, vertraue ich niemandem mehr. Nicht Liara, nicht Galileo, nicht dir. Nicht einmal Drachenblut vertraue ich, dass sie uns wirklich töten wollen. Irgendwas ist hier faul, Henry. Und ich werde herausfinden, was.“
Lucy merkte, dass sie zu viel gesagt hatte. Nach all den Wochen der Zurückhaltung hatte sie sich hinreißen lassen, etwas unüberlegtes zu tun.
Sie wandte sich um und stapfte den Berg hinauf. Henry folgte ihr keuchend.
Lucys Nacken brannte. Sie musste weiter durchhalten, durfte sich nicht von ihrem Emotionen übertölpeln lassen.
Noch nicht.
Galileo stand vor ihren geschrumpften Vorräten und drehte sich suchend im Kreis. Als er Lucy und Henry erblickte, eilte er ihnen entgegen.
„Da seid ihr ja! Was ist los? Wo ist Liara, wo wart ihr?“
„Liara hat uns verraten“, teilte Henry ihm düster mit. „Sie ist zu Drachenblut gelaufen und hat ihnen ein Gegengift genommen, das die Dämpfe neutralisiert.“
Galileo wurde blass. „Was? Diese falsche Schlange!“
„Tja, der Name ist wohl Programm“, meinte Lucy ungerührt. „Wir gehen über zu Plan B – auf die Bäume!“
„Auf die Bäume?“, wiederholte Galileo.
Lucy nickte. „Und pfeift die Saurier zurück. Sie sollen nicht angreifen, sondern sich verstecken.“
Galileo und Henry tauschten einen Blick.
„Lucy … rede mit uns“, sagte Henry dann unvermittelt. „Was hast du vor? Du verheimlichst uns doch etwas!“
Lucy wollte wie üblich unwirsch antworten, aber dann hielt sie inne. Sie sah diese beiden Männer an, die ihr trotz allem bis hierher gefolgt waren. Vielleicht war es nicht zu hundert Prozent ihre eigene Entscheidung gewesen, doch nun waren sie hier. Lucy … schuldete ihnen etwas.
Sie sah nach unten. Ihnen blieben noch einige Minuten.
„Also gut“, seufzte sie. „Ihr erinnert euch nicht mehr an den Tag, als Nokori zu uns kam. Sie war … puh, ich glaube, die dritte Überlebende, die Thanatos eingesammelt hat. Nur gab es ein Problem: Sie war am Strand angegriffen worden, von einem Stegosaurus. Die Viecher mit den langen Stacheln am Schwanz.“
Galileo tauschte einen weiteren Blick mit Henry. Der schlankere Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt und wirkte skeptisch, Henry trat vorsichtig von einem Fuß auf den anderen. Offenbar war seinen Plattfüßen das viele Laufen nicht bekommen.
„Sie hätte tot sein müssen“, Lucy beschloss, ihre Geschichte kurz zu machen. „Ihr Körper war durchbohrt, Magen, Leber und wohl auch die Lunge durchstoßen. Niemand überlebt das, jedenfalls nicht in dieser Wildnis. Als Thanatos sie angeschleppt hat, dachte ich zuerst, wir müssten jetzt Menschenfleisch essen. Sie war blutüberströmt, hat sich nicht bewegt, gar nichts. Aber dem war nicht so“, Lucy schloss die Augen, als sie sich erinnerte. „Er trug sie auf eine Lichtung weiter weg. Ich dachte, dass er sie aufschneidet und zerlegt und uns dann als Dinofleisch verkauft, also habe ich mich ins Gebüsch geschlichen und ihn beobachtet. Doch er hat sich nur über sie gebeugt, ihre Brust berührt – da, wo ihr Herz war – und dann hat er einen Namen gesagt. Nicht Nokori. Ich habe ihn nicht verstanden. Aber so sanft hat er weder vorher noch nachher jemals gesprochen. Jedenfalls holte sie danach plötzlich Luft. Ich hätte schwören können, dass sie vorher tot gewesen war, aber dann lebte sie wieder. Wenig später hat Thanatos sie zu uns gebracht, dann ist sie relativ bald aufgewacht. Wir haben sie gesund gepflegt und ich habe nie darüber gesprochen, was ich gesehen habe. Aber je mehr ich darüber nachdenke, desto sicherer bin ich mir, dass sie wirklich, absolut, hundertprozentig tot war. Thanatos hat sie wiederbelebt.“
Lucy holte tief Luft. „Deswegen glaube ich, dass hier etwas nicht stimmt. Jetzt kennt ihr meine Wahrheit. Ich habe Thanatos auch in eine Grube gesperrt, um sein Geheimnis zu erfahren. Meinetwegen wurden die Gruppen getrennt.“
Galileo und Henry starrten sie beide an. Sprachlos. Lucy klatschte in die Hände. „Und jetzt los, auf die Bäume. Bringt die Saurier in Sicherheit. Drachenblut kommt bald.“
Henry und Galileo rissen sich zusammen und liefen davon, um Lucys Anweisungen umzusetzen. Lucy wartete geduldig, bis die beiden wieder bei ihr waren, sie suchten sich drei Bäume in unmittelbarer Nachbarschaft und kletterten in die Baumkronen.
Oben warteten sie schweigend. Niemand schien zu wissen, was zu sagen war.
Dann kamen drei berittene Flugsaurier näher. Zuerst flogen sie nach an der Kuppe vorbei, umkreisten das Lager der Dodos. Dann sanken sie tiefer. Ein Reiter zeigt auf sie.
„Scheiße! Sie haben uns entdeckt!“, rief Galileo.
Sie kletterten eilig nach unten und Lucy versuchte, Angst zu mimen. Innerlich war sie absolut ruhig. Aus der Nähe konnte sie bereits erkennen, dass die Reiter Tücher vor den Mündern trugen.
Alles lief nach Plan.
Unten auf dem Boden hörten sie, wie sich Schritte näherten. Genau wie Henry und Galileo floh Lucy, als die berittenen Raubsaurier aus allen Ecken auftauchten, genau wie ihre Reiter mit Tüchern vor den Dämpfen geschützt.
Dann fiel etwas zwischen Lucy und Galileo auf den Boden. Das Etwas entpuppte sich als Mensch, einer der Reiter der Flugsaurier.
„Was zu Hölle?“, fragte Henry verdattert.
„Stehen bleiben“, Lucy grinste nun und drehte sich um. Die Raubsaurier kamen näher, allen voran ein schlaksiger Junge auf einem Wolf. Das große, graue Tier sprang auf sie zu. Dann stolperte es, fiel und überschlug sich. Auch der Junge fiel der Länge nach.
Die Welle der Angreifer geriet ins Stocken. Tiere und Reiter verdrehten die Augen und stürzten zu Boden. Sie blieben liegen. Rührten sich nicht mehr.
„Was … passiert hier?“, fragte Galileo.
Lucy grinste nun über beide Ohren. „Das, meine Freunde, war die List der Schlange.“
Die Blicke ihrer Begleiter machten deutlich, dass sie ihr nicht folgen konnten, also platzte Lucy heraus: „Liara hat uns nicht verraten! Das war alles Teil unseres Plans. In den Tüchern war kein Gegengift, sondern primitives Chloroform aus Narcobeerenkonzentrat!“
„Heilige!“, meinte Henry. „Sind die tot? Alle?!“
Galileo und Lucy verdrehten gleichzeitig die Augen.
„Nein. Bewusstlos.“