Der Morgen dämmerte über dem bewaldeten Plateau. Mikail wurde von den frühen Sonnenstrahlen geweckt, die durch die Wände ins Innere seiner kugelförmigen Hütte fielen.
Gähnend streckte er sich und spürte ein paar Knochen im Rücken knacken. Dann erinnerte er sich an den gestrigen Tag. Er war nicht länger allein hier oben. Kassia war hier, der Rest ihrer Gruppe verschwunden, möglicherweise gefangen. Sie würden die anderen suchen müssen. Egal, was Luca Mikail und seinen Raptoren angedroht hatte – sie war eben nur ein Kind und sie hatte keine der Drohungen wahr gemacht.
Doch vorerst gab es eine andere, wichtige Aufgabe. Mikail trat aus der Hütte, spazierte im Morgenwind über einen kurzen Steg und kletterte an einem Seil nach unten auf den Boden.
„Kassia?“, rief er leise.
„Mikail! Oh, Gott, du bist wach!“, Kassias verängstigte Stimme kam aus den Baumkronen. „Kannst … kannst du mir helfen? Ich kriege das mit dem Seil nicht mehr hin.“
Mikail legte einen kurzen Sprint ein. „Wie lange hängst du schon da? Wieso rufst du nicht?“
„Ich wollte dich nicht wecken.“
Kassias Behausung schwebte im Geäst. Mikail sah sofort, dass sich das Seil zum Herablassen in einem Ast verfangen hatte. Er zerrte an dem Seil, bis es sich löste. Kassia schrie vor Schreck, als das Häuschen einen Ruck machte und ein Stück fiel.
„Alles gut!“, rief Mikail. „Ich lasse dich jetzt runter.“
Wie sich zeigte, war das Seil allerdings immer noch verknotet. Zwei Meter über dem Boden kam die Hütte zum Halt und baumelte sanft hin und her. Am Seil rührte sich nichts mehr.
„Verdammt“, Mikail gönnte sich einen Fluch. Er würde das Seil demnächst mit einem Stein beschweren müssen, damit es sich nicht mehr in den Ästen verfangen konnte.
„Was ist los?“, piepste Kassia von oben.
„Das Seil hängt fest. Tut mir leid“, meinte Mikail. „Du musst springen.“
„Springen?!“
„Keine Angst, ich fange dich auf.“
„Aber ich bin viel zu schwer“, protestierte Kassia.
„Spring schon“, ermutigte Mikail sie. „Es ist nicht sehr hoch.“
Zögerlich kam Kassia an den Rand der Türöffnung. Es brauchte noch einiges gutes Zureden, bevor sie sprang. Wie versprochen fing Mikail sie auf und hielt sie dann einen Moment im Arm. Um ihr zu zeigen, dass er ihr Gewicht durchaus halten konnte – und um ihre beruhigende Nähe zu spüren, Gewicht und Wärme eines lebenden Menschen. Wenn Mikail ehrlich war, so war die Einsamkeit hier oben schuld an dem wahnsinnigen Bauprojekt. Er war nunmal kein Mensch, der ohne andere Menschen leben konnte. Es tat gut, nicht mehr allein zu sein.
Er setzte Kassia ab und lächelte. „Siehst du? Alles gut.“
„Wie willst du das Seil los kriegen?“, Kassia war rot geworden und wich seinem Blick aus, indem sie in die Baumwipfel starrte. Mikail hoffte, dass er sie nicht verschreckt hatte. War er zu aufdringlich geworden?
„Ich klettere später hoch. Aber jetzt brauche ich dich, um eine Theorie zu überprüfen.“
„Was für eine Theorie?“, Kassia folgte ihm zum Inneren des Plateaus. Hier befand sich ein kleiner See, von dem ein paar kleine Bächlein durch den Felsen sprangen und sich von den Klippen stürzten. Mikail strich eine Stelle im weichem Sand am Ufer glatt. Mit einem kleinen Stock zeichnete er etwas hinein, ohne Kassias Frage zu beantworten.
Mikail zeichnete ein Rechteck mit leicht abgerundeten Kanten. Darin kam ein zweites Rechteck in die obere Hälfte, die untere Hälfte füllte er mit zwölf Kreisen, die in einem regelmäßigen vier-mal-drei-Muster angeordnet waren.
Dann sah er Kassia an und kaute nervös auf seiner Unterlippe. Die Stunde der Wahrheit: War die Theorie der Schlüssel zum Geheimnis dieser Insel und ihres Lebens hier oder waren all diese Bilder und Wahrheiten nur in seinem Kopf?
„Was ist das?“, fragte er Kassia.
Sie starrte auf das Bildchen, verständnislos, mit zusammengekniffenen Augenbrauen. Mikails Herz sank immer tiefer. Er hatte sich getäuscht. Diese Dinge bedeuteten nur ihm etwas, waren vielleicht die Auswirkungen eines Hitzeschlags. Dabei hatte er sich so viel erhofft!
Plötzlich hellte sich Kassias Gesicht auf. „Ein Handy! Das ist ein Handy!“
Sie schlug sich die Hände vor den Mund und starrte ihn an. „Woher weiß ich das?“
„Erklär mir, was ein Handy ist“, drängte Mikail. Sein Mund war trocken geworden. Sein Herz raste.
„Es …“, Kassia zögerte. „Man kann damit spielen. Und jemandem schreiben. Telefonieren …“
„Man kann Kontakt zu Menschen aufnehmen, die weit entfernt sind, nicht wahr?“
Kassia nickte. „Woher … wie … ?“
Mikail zeichnete wieder. „Und hier?“
„Eine … ein Flugzeug. Man kann damit fliegen … puh, das klingt doof. Es gibt Kontrollen und Abstürze …“
„Genau, genau!“, rief Mikail und warf den Stock fort. „Kassia, du bist ein Genie!“
„Was? Wenn, bist wohl eher du das Genie. Ich verstehe nämlich nichts mehr.“
„Wie können wir ein Handy kennen? Oder ein Flugzeug? Wir haben in unserem ganzen Leben hier nichts dergleichen gesehen. Trotzdem wissen wir sofort, was das ist, richtig?“
Kassia nickte, sprachlos.
„Unsere Vergangenheit! Wir hatten ein Leben vor diesem hier. Und wir erinnern uns!“ Mikail musste inne halten. Er musste durchatmen, mit einem Mal wurde ihm schwindelig. Erst jetzt verstand er, was das bedeutete. Seine Theorie war bewiesen. „Wir haben eine Vergangenheit“, murmelte er. „Diese verschwommenen Gesichter, das sind unsere Familien. Vielleicht … sind sie noch irgendwo.“
„Aber warum können wir uns nicht an sie erinnern?“, fragte Kassia jetzt. „Ich meine, die eigene Familie liebt man doch!“
„Ich glaube … ich glaube genau deswegen“, murmelte Mikail und kratzte sich an der Nase … eine unwillkürliche Bewegung, weil er eigentlich eine nicht vorhandene Brille hochschieben wollte. Weitere Erinnerungen.
„Ich glaube, die emotionalsten Dinge haben wir vergessen. Aber manche Erinnerungen sind … grundlegend. So elementar für unser früheres Leben, dass sie tief in unser Gehirn gestempelt wurden oder so. Wir haben vielleicht tausende Handys gesehen, deswegen kann man uns diese Erinnerung nicht nehmen.“
Kassia sah ihn an. Mikail starrte zurück. Der Wind fuhr durch die Baumwipfel.
„Ich erinnere mich an Handys“, sagte Kassia schließlich. „Ich erinnere mich. Und wenn ich mich daran erinnern kann …“
„Dann können wir vielleicht auch alle anderen Erinnerungen erreichen“, beendete Mikail ihren Satz.