Ein seltsames, ledriges Geräusch ließ Mikail aus dem Schlaf auffahren. Ohne sein Zutun schloss sich seine Hand um den Griff des Speers, der neben seinem Bett lag. Sein Herz raste. Er hörte die Dodos aufgeregt plocken, etwas hatte sie erschreckt. Und um die trägen Vögel zu erschrecken, brauchte es viel.
Er sprang auf und rannte zu dem Seil, das von seiner Hütte nach unten führte. Er flog daran durch die kalte Morgenbrise und landete geschickt auf dem Boden, nah bei dem See in der Mitte ihres neuen Lagers.
Er entdeckte etwas, das nicht auf die Kuppel gehörte: Einen großen, schwarz-roten Flugsaurier, der groß und gefährlich aussah. Mikail hob die Waffe und fragte sich, ob er fähig wäre, ein Tier zu verletzen.
In diesem Moment fielen zwei Gestalten vom Rücken des Flugsauriers und blieben im Gras liegen. Auch der Saurier taumelte und fiel der Länge nach hin.
„Hallo?“, rief Mikail und kam vorsichtig näher. „Wer sind Sie? Brauchen Sie Hilfe?“
„Jaaa!“, stöhnte eine Stimme, die überraschend jung klang. Mikail entdeckte eine der zwei Gestalten, einen blassen, dunkelhaarigen Jungen, der ihn anblinzelte. Er wirkte erschöpft, genauso wie das Reittier. Ein zweiter, kleinerer Flugsaurier kam herangesegelt und landete neben dem Jungen, um an seinem Ohr zu zupfen.
Mikail tastete nach der Stelle, wo für gewöhnlich sein Wasserbeutel hing und stellte fest, dass er nur eine Hose trug und sonst nichts. Er eilte zu seiner Hütte, kletterte das Seil keuchend hinauf und holte den Wasserschlauch. Auf dem Rückweg streifte er sich eilig ein Hemd über.
Als er zurück kam, war der Flugsaurier bereits in tiefen Schlaf gefallen. Mikail beugte sich über den blassen Jungen, der sich erschöpft aufsetzte, und reichte ihm das Wasser.
„Wer bist du? Woher kommst du?“
„Zayn“, sagte der andere zwischen zwei gierigen Schlucken. „Drachenblut.“
Der Name des Lagers ließ Mikail das Blut in den Adern gefrieren. „Bist du ein Spion?“, er griff wieder nach dem Speer.
„Nein, nein! Ein Flüchtling!“, beeilte sich Zayn zu versichern. „Wir beide sind abgehauen …“
Er sah sich suchend um und Mikail erinnerte sich, dass zwei Gestalten von dem Saurier gepurzelt waren. Zuerst allerdings bemerkte er Kassia, die unsicher in einiger Entfernung stand und sie anstarrte. Nachdem sie merkte, dass sie entdeckt war, kam sie näher.
„Was ist passiert?“
„Wir haben Besuch“, sagte Mikail mit einem Grinsen. „Zwei Ausreißer von Drachenblut.“
„Ich bin Zayn“, stellte sich Zayn erneut vor. „Und Maurice muss hier irgendwo liegen.“
Sie mussten nicht lange suchen, um den braunhaarigen Begleiter von Zayn zu finden. Hier erwartete sie die nächste Überraschung.
„Ashley?“, fragte Kassia. „Mikail, das ist Ashleys Zwillingsbruder oder so!“
Mikail sah Zayn an. „Maurice heißt er, hast du gesagt? Woher kennt ihr euch?“
„Er war Neuling im Lager“, verteidigte sich Zayn.
„Hat er eine Ashley erwähnt? War sie bei euch?“, fragte Kassia, doch Zayn schüttelte den Kopf, die Augen weit aufgerissen. „Den Namen höre ich zum ersten Mal!“
Mikail hatte das eindeutige Gefühl, dass Zayn log. Der Schwarzhaarige wirkte erschreckt. So als wäre ihm der Name Ashley alles andere als unbekannt.
Wie passte der unheimliche Doppelgänger von Ashley in das Bild? Maurice war jedenfalls bewusstlos oder eingeschlafen und konnte keine Antworten liefern. Nach kurzem Zögern brachte Mikail den Jungen und auch Zayn in eine der Hütten. Der kleinere Flugsaurier folgte Zayn dabei wie ein Schatten, während der Größere auf dem Boden liegen blieb und sanft schnarchte.
„Wie haben sie uns gefunden?“, fragte Kassia leise, nachdem sie und Mikail alleine waren. „Du sagst, sie sind von Drachenblut?“
Mikail nickte. „Sie werden uns einiges erklären müssen, wenn sie aufwachen.“
Ein dramatisches Rumpeln unterstrich seine Worte. Mikail und Kassia starrten sich einen Moment an. Das Rumpeln erklang wieder, diesmal konnten sie es orten.
Sie sprinteten zum Rand ihres Lagers und starrten über die Wälder hinweg auf den größten Saurier, den sie jemals gesehen hatten: Ein Monster, groß wie eine Gebirge, mit einer felsigen, zerklüfteten Haut, auf der sogar Bäume zu wachsen schienen.
„Drachenblut!“, stieß Kassia hervor. Sie klang so ängstlich, wie Mikail sich fühlte. Man hatte sie entdeckt. Drachenblut hielt direkt auf ihr Lager zu.
Er ließ den Blick über die Wälder schweifen und verbiss sich einen Fluch, als er etwas viel beunruhigenderes bemerkte: Eine Gruppe Saurier, allem Anschein nach beritten, war bereits auf dem Hang.
„Kassia, schnell!“, rief er und deutete auf die Angreifer.
Kassia verstand. Sie lief zur einen Seite der Berginsel, Mikail zur anderen. Beide zerrten an den Seilen eines großen Netzes und hieben dann mit ihren Speeren auf das Netz ein. Ein Rumpeln belohnte sie, als ein Teil der Bergflanke abrutschte. Eine gewaltige Staubwolke erhob sich rund um ihr Lager und stieg graubraun in den Himmel auf.
Mikail hustete und stolperte durch den Dunst zurück zu Kassia. Als sich der Staub lichtete, war der Berg verändert: Ihre Mauer stand noch, doch die Steine darunter waren abgerutscht. Ihr Lager war jetzt von einem Hang aus lockerem Geröll umgeben, den kein Angreifer so leicht überwinden konnte.
„Das war genial“, meinte Kassia anerkennend.
„Ich bin erstaunt, dass es funktioniert hat“, gab Mikail zu.
„Sag doch sowas nicht!“, Kassia riss die Augen auf.
Mikail grinste beruhigend. „Es hat funktioniert, oder etwa nicht? Wir sind jetzt sicher.“
Wir und diese beiden Fremden, dachte er bei sich. Konnten sie Zayn und Maurice trauen? Oder waren die beiden vielleicht nur die Vorhut?
Unwillkürlich sah er zurück und erwartete halb, dass ihr Lager brannte oder die beiden Fremden mit gezogenen Waffen hinter ihnen standen.
Sie standen auch hinter ihnen, aber weiter entfernt und offensichtlich von dem Lärm des Erdrutsches geweckt und verängstigt. Beide sahen nicht wirklich bedrohlich aus.
„Mikail …“, Kassia verlangte seine Aufmerksamkeit. „Ich glaube, wir waren etwas voreilig.“
Mikail sah wieder nach vorne. Kassia deutete auf den Berghang, wo sich die erste Gruppe näherte. Ein großer, weiß-roter Saurier rutschte ungelenk über das Geröll. Zwei Reiter auf Raptoren fluchten lautstark und auf einem der zwei gehörnten Pflanzenfresser saß ein dicklicher Mann, dem man selbst aus dieser Entfernung ansehen konnte, dass er den Tränen nah war.
„Lucy“, stellte Mikail fest, als er die anderen erkannte. „Galileo. Henry.“ Den vierten Menschen, eine Frau mit einem langen, schwarzen Zopf, kannten sie nicht.
„Das sind unsere Leute“, sagte Kassia (möglicherweise etwas voreilig). „Wir haben sie ausgesperrt!“
Lucy hatte sie entdeckt und schickte eine Reihe unverständlicher Flüche herauf.
Mikail legte die Hände trichterförmig an den Mund: „Entschuldigung! Wir wussten nicht, dass ihr es seit!“, brüllte er aus vollen Lungen. „Wir finden einen Weg, euch herauf zu holen!“
Kassia drückte sich schutzsuchend gegen ihn. „Mikail … ich weiß nicht, ob wir Zeit dafür haben.“
Mikail sah zu dem großen Saurier am Horizont, der in beängstigendem Tempo näher kam.
„Ich werde mir was einfallen lassen“, versprach er.
Aber zum ersten Mal glaubte er selbst nicht, dass er es schaffen könnte.