Das Gebüsch verbarg Lucy vor allen unfreundlichen Blicken. Sie rümpfte leise die Nase, als sie Nokori verschwinden sah. Eine Verräterin in ihren Reihen! Lucy hatte bereits damit gerechnet.
Sie stand auf und kehrte auf den Lagerplatz zurück. Mit lautem Klatschen riss sie den Rest der Gruppe aus dem Schlaf.
„Aufgestanden, Schlafmützen. Es herrscht Krieg!“
„Krieg?“, wiederholte Galileo verschlafen und zweifelnd. „Was denn für ein Krieg?“
„Nokori ist geflohen. Ich denke, sie läuft direkt zu Drachenblut und verrät denen, wo wir uns befinden“, meinte Lucy.
Jetzt hatte sie die Aufmerksamkeit der Anderen. Ashley wurde blass, Kassia schüttelte den Kopf. „Gibt es dafür Beweise?“
„Wir können natürlich warten, bis Drachenblut vor der Tür steht“, brummte Lucy. „Dann habt ihr euren Beweis.“
Henry stand auf und streckte sich. „Was sollen wir tun?“
„Wir brauchen Gräben“, sagte Lucy und trat einen Dodo beiseite, der ihr vor die Füße gewatschelt war. „Wir brauchen eine gute Position, von der wir kämpfen können.“
„Nein, wir müssen hier weg“, sagte Kassia heftig. „Du hast doch Ashleys Bericht gehört! Sie sind zu stark!“
„Sind sie nicht“, sagte Lucy mit blitzenden Augen. Henry stapfte direkt los und suchte nach einer Schaufel. Er warf Galileo eine zweite zu. Der großgewachsene Mann zögerte einen Moment und warf Lucy einen Blick zu, in dem sich spöttische Ironie und offenes Misstrauen mischten. „Weißt du, was du tust, Mädchen?“
„Ja“, sagte Lucy fest. „Ich weiß genau, was ich tue.“
Galileo folgte Henry.
Kassia seufzte. „Lucy, wir … wir haben keine Chance. Sie haben Saurier, so groß wie Berge!“
„Ja, sie sind groß und dumm und selbstsicher“, meinte Lucy. „Außerdem wird zuerst ihr Spähtrupp erscheinen. Wenn die Späher nicht zurückkehren, um Bericht zu erstatten, wird uns der Rest niemals finden.“
Kassia schwieg.
„Schnapp dir eine Schaufel“, sagte Lucy kalt. „Jetzt ist eine von den Gelegenheiten, wo wir gegen den gemeinsamen Feind zusammenhalten müssen.“
Sie arbeiteten verbissen, Seite an Seite. Mikail gab ein paar wortkarge Tipps, wie sie den Graben zu ziehen hätten. Bald hatten sie sich alle die Hände an den Stielen ihrer Schaufeln aufgerissen. Viele mussten auch mit Speeren oder anderem Gerät graben, denn sie besaßen zu wenig Schaufeln.
Lucy überwachte die Grabung und stellte die Saurier in einer Reihe auf. Die Dodos scheuchte sie in die nahen Wälder. Wenn überhaupt, würden die plumpen Vögel ihnen nur im Weg sein. Aber Scaramouche, Oskar, Umbridge und das Krokodil, das sie insgeheim Thanatos nannte, stellte sie in einer Reihe auf. Smiley, der kleine Parasaurus, der Galileo überall hin folgte, wurde hinter die vier gestellt.
„Das reicht jetzt“, sagte Lucy. „Lasst die Gräben. Wir gehen in den Wald.“
„Was willst du da?“, fragte Mikail verwirrt.
„Stolperfallen bauen“, erklärte Lucy. „Hast du nicht ein Modell dafür, Mikail?“
„Naja … ich habe mir mal was überlegt, was für Oskar gehen würde“, der Bauer sah zu dem kleinen Dilo herüber.
„Perfekt, bau es nur ein bisschen größer“, meinte Lucy.
Kurz, bevor der Spähtrupp von Drachenblut auftauchte, waren die Vorbereitungen perfekt. Das Lager war von einem dichten Graben umgeben, und sie hatten Schanzen aus eilig herbeigeschafften Baumstämmen gebaut. Hinter diesen Barrikaden röhrten die Saurier, und man sah die Speere und provisorischen Helme der Verteidiger aus der Deckung ragen.
Nur, dass besagte Verteidiger in den Bäumen hockten, mit Pfeil und Bogen sowie mit Speeren ausgestattet, und an den Auslösern diverser Stolperfallen. Der Wald lag totenstill unter ihnen.
Lucy sah den Spähtrupp kommen. Es war ein Rudel Raptoren in wunderschönen Farben. Auf einem der Tiere ritt eine dunkelhäutige, kräftige Frau, und auf einem anderen – wie zu erwarten – ritt Nokori, die Verräterin. Die Raptoren näherten sich dem scheinbar kampfbereiten Lager. Nokori flüsterte der Kriegerin etwas zu, vielleicht, was alles an dem Lager geändert worden war.
Lucy gab ein Signal, als die Raptoren an der richtigen Stelle waren. Ein Netz hob sich aus dem Boden, als Mikail und Galileo daran zogen. Keckernd wurden drei Raptoren in die Luft gerissen, die Kriegerin schrie etwas. Nokori fluchte.
Lucy spannte den Boden und schoss einen Pfeil auf Nokori, doch deren Reittier trug sie mit einem wendigen Sprung aus der Gefahrenzone heraus. Zischend sahen die Raptoren in die Höhe, die ersten begannen, zu springen.
„Steine!“, rief Galileo und ein wahrer Hagel ging auf die Raubsaurier herunter. Lucy steckte beide Finger in den Mund und stieß einen schrillen Pfiff aus, worauf Scaramouche donnernd über den Graben kam, gefolgt von Krokodil-Thanatos, Oskar und Umbridge.
Wie erwartet trat der Spähtrupp einen Rückzug an, in die Richtung, in der Lucy die Angreifer haben wollte.
„Jetzt!“, brüllte sie, als die Raptoren unter dem richtigen Baum ankamen.
Doch nichts geschah. Wo eigentlich Mikail und Kassia mit einer weiteren Falle aufwarten sollten, um die Angreifer einzukesseln, rührte sich niemand.
Lucy brauchte nur eine Sekunde, bis ihr aufging, dass sie auch die Horde an Dodos lange nicht mehr gesehen hatte. Irgendwann im Laufe der Vorbereitungen hatten Kassia und Mikail die Vögel zusammengepfercht – dann hatten die beiden still und heimlich die Flucht angetreten.
Lucy schrie vor Wut über ihre eigene Unachtsamkeit und schoss einen weiteren Pfeil ab, der sich in die Flanke eines Sauriers bohrte. Doch jetzt schlug die Kriegerin zurück. Sie hetzte ihre Tiere gegen die Bäume, befahl ihnen, jeden einzelnen aus dem Wipfeln zu reißen.
Lucy sprang auf den Boden, als ihr Baum bedrohlich schwankte. Die anderen folgten und bildeten instinktiv einen Kreis, Rücken an Rücken. Die Raptoren drängten auf sie ein, die vier Verteidiger schrien.
Sie würden nicht durchhalten. Die Raptoren waren ihnen sowohl an Geschwindigkeit als auch an Zahl überlegen, ganz zu schweigen davon, dass die dünnen Holzspeere wenig Chancen gegen die mächtigen Kiefer der Tiere hatten.
Lucy sah nur einen Ausweg: Sie mussten fliehen! Sie pfiff Scaramouche her und sprang auf den Rückend es Dreihorns, doch nur, um die drei gefangenen Raptoren loszuschneiden. Ehe sich das prächtigste der drei Tiere, ein dunkelgrauer Raptor, aufrappeln konnte, saß Lucy bereits auf seinem Rücken und griff nach den Zügeln.
„Galileo, Henry, Ashley! Los!“, rief sie den anderen zu und packte die Führstricke der übrigen zwei Raptoren. Die Tiere zerrten an ihren Geschirren, Lucy kämpfte um die Kontrolle. Henry sprang neben ihr auf einen Raptor. Galileo rettete sich auf Scaramouche, und im Arm hielt er ein kleines, zappelndes Wesen, das Töne wie eine verstopfte Trompete von sich gab: Seinen verdammten Zwerg von einem Parasaurus.
Lucy gab ihrem Raptor die Sporen. Sie wollte das unberittene Tier in Ashleys Nähe bringen, als das junge Mädchen plötzlich einen lauten Schrei ausstieß.
Lucy fuhr zurück: Eine Pfeilspitze ragte aus Ashleys Brust, Blut spritzte nach vorne. Ashley riss die Augen auf und starrte Lucy an, streckte eine zitternde Hand aus. Ihr Blick war flehentlich und voller Angst.
Lucy rammte die Fersen in die Seiten ihres Raptors und das Tier hetzte los. Die anderen beiden Raptoren und Scaramouche folgten. Oskar, Umbridge und das Krokodil blieben zurück und hielten ihnen die tobende Kriegerin vom Leib. Lucy sah ein einziges Mal nach hinten.
Dort kippte Ashley langsam auf die Knie, ihr anklagender Blick folgte den fliehenden Freunden. Dann fiel Ashley in eine Pfütze Sumpfwasser und verschwand augenblicklich.
Lucy beugte sich über den gefiederten Hals ihres noch störrischen Reittieres und zwang den Raptor vorwärts. Henry und Galileo schwiegen, nur Smiley trompetete voller Angst.