Es war ein friedlicher, stiller Morgen. Lucy stapfte als Kopf ihrer kleinen Gruppe voran, die Hände in den Taschen ihrer Hose vergraben. Galileo und Henry versuchten beide, eine sehr kleine Mitte zu bilden und Liara die Schlange schließlich trottete in einem Tempo hinter ihnen her, das sich entgegen aller Logik durchaus als abschätzig bezeichnen ließ: Die Laufgeschwindigkeit, die hochgezogene Lippe, wann immer sich Galileo zu ihr umdrehte und die Bewegung, mit der sie ihren Zopf nach hinten zu werfen pflegte, all das drücke aus, wie ungern sie sich hier befand.
Galileo war nicht eben erfreut über den Neuzugang ihrer Gruppe, denn er konnte Liara nicht einschätzen. Trotzdem hatte er irgendwie das Gefühl, dass mit Liara ein Rest Verstand zu ihnen zurückgekehrt war. Liara war nicht bereits längere Zeit mit Lucy unterwegs und wagte es, Dinge in Frage zu stellen.
Lucy hieß sie anhalten. Eilig schlossen Galileo und Henry auf, denn etwas an Lucys Haltung weckte Besorgnis. Mit einem Pfeifen rief Lucy auch die zahlreichen Saurier zu sich.
„Da vorne“, flüsterte das Mädchen aufgeregt und deutete auf eine offene Fläche, die durch die Baumstämme zu erahnen war. Galileo blinzelte geblendet, denn es handelte sich um ein Schneefeld. Doch das war es nicht, was Lucy meinte. Galileo hörte eine Art Donnern und erkannte er schließlich ans Schritte. Dann schob sich ein Monstrum in sein Sichtfeld, ein großer, zweibeiniger Saurier mit weißem Federkleid und roter Zeichnung.
„Ist das … ein T-Rex?“, fragte Henry bibbernd, als das Untier nur einen Steinwurf entfernt an der Baumgrenze entlang stampfte.
„Um ehrlich zu sein ist das ein Giganotosaurus“, hörte Galileo sich sagen. „Der ist größer als der T-Rex.“
„Perfekt“, ein wildes, wahnsinniges Lächeln lag auf Lucys Lippen. „Den zähmen wir!“
„Den?“, ächzte Galileo, während Henry „Yeah!“ rief.
„Was habt ihr vor?“, Liara schloss erst jetzt zu ihnen auf.
„Lucy will das Monster da zähmen“, sagte Galileo anklagend.
Liara hob eine Augenbraue. „Und wie zähmt man Saurier?“
„Du schlägst sie bewusstlos und fütterst sie, bis sie dich nicht mehr fressen wollen“, erklärte Lucy, ohne die Augen von dem Objekt ihrer Begierde zu lösen, das soeben mit der großen Schnauze im Schnee wühlte.
Lucy steckte eine Zungenspitze zwischen die Lippen.
„Ihr meint es ernst? Keiner will ihr das ausreden?“, fragte Galileo entgeistert.
„Nee, ich will sehen, wie ihr es anstellt“, meinte Liara lässig.
„Und wie stellen wir es an?“, fragte jetzt Henry, dem offenbar plötzlich klar wurde, was Lucy da plante.
„So wie immer“, ihre Anführerin zuckte mit den mageren Schultern. „Wir werden Fleisch und eine Menge Narcobeeren brauchen.“
„Narcobeeren? Meint ihr die Schwarzen?“, fragte Liara.
Lucy nickte. „Kennst du die? Die müssen wir sammeln. Damit das Vieh nicht aufwacht.“
„Lucy!“, rief Galileo, „ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber wir können das Tier da bestimmt nicht mit einer kleinen Schleuder bewusstlos schlagen. Noch mit der Faust! Wir werden draufgehen!“
„Und wenn wir einen Pfeil mit Narcobeeren-Gift rein jagen?“, ließ sich jetzt Liara vernehmen.
„Kannst du das denn?“, fragte Lucy.
Liara nickte.
„Dann tun wir das!“, Lucy wirkte begeistert.
„Wir?“, fragte Liara spitz. „Ich tue das. Ihr tut, was ihr sonst so tut. Und bleibt aus der Schusslinie raus.“
Wirklich bezeichnend war, dass Lucy nichts darauf erwiderte. Galileo stellte fest, dass er Liara zu mögen begann.
Sie trafen die Vorbereitungen, die nötig waren. Für Liara bedeutete das, lässig auf einem Stein zu sitzen und ihre Waffen vorzubereiten. Für Lucy bedeutete es, Galileo und Henry zu überwachen. Henry musste mit den gezähmten Sauriern auf Jagd gehen und genug Fleisch zusammentragen. Galileo fiel die Aufgabe zu, Beeren zu sammeln und dann die Narcobeeren auszusortieren. Liara beobachtete ihre Gruppe spöttisch, als wäre es ihr unverständlich, wie man sich dem Willen eines Kindes beugen konnte. Aber Galileo hatte die dunkle Seite von Lucy gesehen. Außerdem hatte er Smiley, auf den er aufpassen wollte. Solange das kleine Tier ihm hinterher-watschelte, war er eigentlich ganz zufrieden.
Schließlich ließ sich der Angriff nicht länger hinauszögern. Die Sonne stand im Zenit, es war Mittag. Galileo und Henry krochen an den Wandrand, umringt von einer wahren Horde Raubsaurier. Liara stand neben ihnen und spannte einen Bogen.
„Der Wind ist schlecht“, murmelte sie zu sich selbst. „Und die Entfernung zu groß.“
Der Giganotosaurus war inzwischen weiter weg gezogen, in die Schneeebene hinein und fort vom Wald. Es war stürmisch.
„Wir nutzen die Saurier als Ablenkung“, sagte Lucy ruhig, die etwas weiter hinter ihnen stand. „Aber du solltest trotzdem treffen, Schlange.“
„Gerne doch, Lu“, Liara grinste auf eine wölfische Art. Galileo seufzte stumm.
„Seit ihr bereit?“, fragte Lucy.
Galileo und Henry nickten. Liara spannte ihren Bogen und zielte, die Pfeilspitze im Wind.
„Angriff!“, flüsterte Lucy leise und angespannt.
Der Pfeil schoss singend von der Sehne und traf eine volle Saurierlänge hinter dem Giganotosaurus in den Schnee. Galileo gab einen Befehl und die Dilos hetzten wie ein Rudel Jagdhunde vorwärts. Sie stürmten auf den riesigen Artgenossen zu und schnappten nach seinen Füßen. Der Fleischfresser brüllte so laut, dass es in Galileos Ohren klingelte. Liara spannte seelenruhig den Bogen neu. Henry kniff die Augen zusammen, um den Kampf der kleinen Dilos gegen den riesigen Giganoto.
Gefiederte Räuber flogen in alle Richtungen durch die Luft, der große Saurier stellte ein richtiges Gemetzel an.
Liaras zweiter Pfeil traf. Der Giganoto brüllte, röhrte und taumelte dann. Galileo pfiff die Dilophosaurier zurück, bevor diese den betäubten Giganten zerfetzten.
Die Dilos kamen zurück. Liara senkte den Bogen und warf Lucy einen überlegenen Blick zu. „Dann zeig mal, was du drauf hast, Mädchen.“
Lucy zischte. „Ich habe einen Namen, Schlange.
„Ich habe auch einen Namen, Mädchen“, zischte Liara sofort zurück.
„Der Saurier“, rief ihnen Galileo säuerlich in Erinnerung. „Könnt ihr euer Ego-Duell bitte verschieben? Ich möchte nicht, dass das Vieh da aufwacht, dann wird es nämlich sehr sauer sein.“
„Schon gut“, Lucy schnaubte. „Bringt das Fleisch runter, hopp, hopp!“