Mikail stand alleine im Wald und lauschte dem Rauschen der Blätter über ihm. Das Stampfen der Armee kam näher und näher, doch das Rauschen erschuf eine Illusion, als würde er sich in einer Blase der Stille aufhalten. Der Wind zerrte an seiner Kleidung, die ersten Regentropfen fielen und klatschten kalt auf seine Arme, auf den Boden und auf seine Brille.
Er hörte Schritte und drehte sich um. Nicht weit entfernt stand Kassia zwischen den Bäumen, Maurice und Zayn hinter sich. Der Ausdruck des Mitleids auf ihren Gesichtern sorgte dafür, dass Mikail sich wie ein Monster fühlte.
„Ich schaff es nicht alleine“, sagte er schließlich und deutete auf die Schaukel, die er zuvor benutzt hatte, um Kassia nach unten zu lassen. Nun lag das Gerät auf dem Boden, doch um eine Waffe daraus zu basteln, müsste er sie spannen.
„Deswegen sind wir hier“, meinte Zayn und lächelte. Der Junge hatte die Ärmel hochgekrempelt und wirkte bereit, sich in Arbeit zu stürzen. Maurice und Kassia zeigten durch stummes Nicken ihre Zustimmung.
Mikail fühlte sich gerührt. Ihm war, als ob eine Last von seinen Schultern genommen würde. Natürlich, sie waren ein Team, eine Gruppe. Er musste nicht alles alleine machen.
„Okay“, er rückte die Brille zurecht. „Okay, okay. Dann fasst mal mit an, wir müssen die Schaukel hinter den Baum dort kriegen.“
Die drei hoben die Augenbrauen, denn in Anbetracht der Länge des Seils und der Entfernung zu dem von Mikail bezeichneten Baums war die Aufgabe unmöglich. Dann griffen sie jeweils zu zweit nach einem Seil der Schaukel und zogen.
Mikail hatte die Schaukel in den Kronen zweier Bäume befestigt. Die Sitzfläche aus Holz mussten sie nun hinter einem dritten Baum verkeilen, der etwa einen Meter über dem Boden geborsten war. Als sie mit vereinten Kräften zogen und ächzten, neigten sich die beiden Baumwipfel dem Boden zu. Mikail spürte, wie das raue Seil durch seine Hände glitt und ihm die Handflächen aufschürfte.
„Ziehen!“, rief er. „Los!“
„Aaah!“, rief Kassia, was die einzige Warnung war. Ihr war das Seil aus den Händen gerutscht, im nächsten Moment schnellte die Schaukel zurück, als sich die Bäume knirschend wieder aufrichteten. Sie konnten alle gerade noch rechtzeitig aus der Bahn der Sitzfläche springen.
„Tut mir leid!“, sagte Kassia. „Es tut mir so leid!“
„Kein Problem“, Mikail sah auf seine blutigen Hände. So würde das nicht funktionieren. Wenn Kassia nicht losgelassen hätte, so einer von ihnen anderen.
„Wir sollten uns was um die Hände wickeln“, meinte Zayn. „Habt ihr Stoffreste oder so? So machen wir das immer, wenn wir ein störrisches neues Tier bekommen.“
„Das ist eine gute Idee!“, meinte Mikail, sprang auf und sprintete zu seiner Hütte, die er auf dem Boden abgestellt gelassen hatte, statt sie in die Bäume zu ziehen. Mehrere Dodos flohen plockend vor seinen Schritten.
Im Laufschritt kehrte er zu den anderen zurück, mehrere dünne Stoffstreifen in den Händen. Zayn, Maurice, Kassia und Mikail banden sich die Streifen um die Hände. Dann griffen sie erneut nach den Seilen.
„Und ziehen! Los!“, rief Mikail.
Zayn fiel in den Ruf mit ein: „Hau-Ruck! Hau-Ruck!“
Erneut neigten sich die beiden mächtigen Bäume. Mikails Muskeln brannten, Schweiß lief über seine Arme. Die Haare fielen ihm in die Stirn, doch dann … ein Ruck lief durch das Seil. Mikail ließ los und sprang zurück, er erwartete, das Holz wieder an seinem Ohr vorbeipfeifen zu hören.
Die Schaukel rührte sich nicht. Fest gespannt hing sie zwischen den Bäumen und dem gesplitterten Stamm.
„Ich nehme an, wir nutzen das als Schleuder?“, fragte Kassia, während sie Mikail Werk betrachtete.
Mikail nickte. „Wir müssen den Sitz beladen. Schnell, bevor die Seile noch reißen. Zayn? Oder Maurice – einer von euch muss gucken, wann Drachenblut kommt.“
Maurice hob schüchtern eine Hand und Mikail drückte ihm eine Flöte in die Hand, die er aus einem Knochenstück geschnitzt hatte: „Wenn sie kurz vor dem Berg sind, dann gib uns ein Signal.“
Maurice nickte und huschte davon. In der Hinsicht war er genau wie Ashley.
„Haben wir denn Munition?“, fragte Kassia jetzt.
Mikail nickte und gestattete sich ein bösartiges Grinsen, obwohl ihm innerlich das Herz blutete: „Wir haben hier oben tausende Dodos – die lassen genug Munition fallen.“
Damit reichte er Kassia eine Schaufel und Zayn einen Sack: „Dung einsammeln“, befahl er knapp.
„Igitt“, machte Kassia.
„Die Idee gefällt mir“, grinste Zayn und lief los.
Mikail hatte bereits am gestrigen Tag gesammelt, die Ausbeute lagerte in einer Erdkuhle nicht weit entfernt und stank vor sich hin. Er legte die Säcke vor die Sitzfläche der Schaukel. Sie waren mit Schnüren zugebunden, doch Mikail band die Schnüre nun an eine Wurzel im Boden. Sobald die Schleuder losging, würden die Schnüre reißen, die Säcke würden sich öffnen und ihren Inhalt in die Reihen der angreifenden Flugsaurier regnen lassen.
Mikail hatte Angst vor seiner eigenen Genialität. Es erschreckte ihn, wie leicht sich die Leiter, gedacht als Rettung für Lucys Gruppe, in eine Waffe verwandeln ließ. Zum Glück würde das Katapult nur einen einzigen Schuss abgeben können – doch der musste sitzen.
Bald kamen Kassia und Zayn zurück. Während Zayn nickt wirkte, als ob ihn der Geruch belasten würde, hielt Kassia sich die Nase zu. Doch sie half mit, die Schaukel-Schleuder zu laden.
Am Ende reichte Mikail Zayn einen Speer und nahm sich selbst einen. Während Kassia in einiger Entfernung auf einen jungen Baum kletterte, um in den Himmel zu sehen, positionierten sich Mikail und Zayn auf je einer Seite des gesplitterten Baums.
„Wir müssen möglichst gleichzeitig zustechen“, erklärte Mikail. „Sonst feuert das Katapult nicht gerade ab.“
„Wir durchtrennen die Wurzeln, richtig?“, fragte Zayn, der eine erstaunlich gute Auffassungsgabe bewies.
Mikail nickte. „Der Baumstamm bricht ein und das Katapult geht los. Es ist wie … eine Armbrust. Falls dir das was sagt.“
Zayn runzelte die Stirn. „Ich glaube, ja. Warte, wie kann das sein? Ich habe niemals eine Armbrust gesehen. Oder doch?“
„Das ist schwer zu erklären“, gab Mikail zu. „Wir alle haben solche Rest-Erinnerungen. Aus einem vorherigen Leben oder so.“
Zayn schluckte. „O-kay.“
In diesem Moment erklang ein schriller Pfiff.
„Sie sind hier!“, vermeldete auch Kassia und kletterte zu Boden.
Mikail und Zayn hoben die Speere.
„Eins-Zwei-Drei!“, rief Zayn, dann stachen sie zu.
Die Steinspitzen ihrer Waffen durchtrennten die unterirdischen Wurzeln. Der Baumstamm splitterte und zerbrach dann krachend, mit einem Fauchen schoss die Sitzfläche der Schaukel los, als die beiden gebeugten Bäume sich plötzlich wieder aufrichten konnten.
Braune Klumpen wurden in den Himmel geschleudert. Mikail rannte den Geschossen hinterher zum Rand der Bergkuppe.
Der Himmel wurde von unzähligen Flugsauriern verdunkelt, die direkt in Mikails Angriff flogen. Zu viert standen die Verteidiger am Rand und sahen zu, wie ihr Hagel auf die Flieger nieder ging. Schreie füllten die Luft, als die ersten Saurier abstürtzten. Sie hatten mitten ins Herz der Gruppe getroffen, fast jeder Klumpen traf.
„Sauberes Timing“, sagte Zayn zu Maurice, doch sie alle waren blass geworden. Menschen und Flugsaurier fielen wie Steine aus dem Himmel, in die Reihen der Armee hinein, die unter ihnen aufmarschierte. Mikail sah die unterschiedlichsten Saurier und Säugetiere in den unterschiedlichsten Größen und in seinem Magen bildete sich ein Klumpen, als er die fallenden Menschen aufprallen sah und beobachtete, wie riesige, bewusstlose Adler die Bodentruppen unter sich begruben.
Ein Gemetzel. Es klebte Blut an seinen Händen, das er niemals würde abwaschen können.
„Ach du heilige -“, Kassia deutete auf den Berghang unter ihnen und wurde noch blasser. „Da!“
Unzählige Skorpione kletterten de Hang hinauf. Sie waren größer als ein Mensch. Ihre Scheren klickten, die Chitinpanzer knirschten und die Giftstachel glänzten rötlich.
„Wie sollen wir das überleben?“, fragte Zayn leise.
Mikail ging zu einem Baum am Rand der Ebene, bückte sich und hob ein Bündel auf. Als er den Stoff entfernte, offenbarten sich dem Blick der anderen sechs schlanke, metallische Waffen.
Gewehre.
„Mikail …“, sagte Kassia, aber sie sprach nicht weiter.
„Ich fürchte, Thanatos hat doch an meinem Stolz gekratzt“, musste Mikail zugeben und reichte jedem eine Waffe. „Er hatte Recht. Ich kann Waffen bauen. Und nun brauchen wir sie.“
Er verteilte auch die Munition.
„Wann …?“, fragte Kassia, die über ihre Waffe strich, einen Ausdruck des Terrors im Gesicht.
„Schon damals“, antwortete Mikail. „Bevor du mich befreit hattest. Als ich in der Hütte eingesperrt war und nichts zu tun hatte, da habe ich begonnen, sie zu bauen.“
Schweigend senkte sich über die Gruppe. Sie luden ihre Waffen. Sie traten an den Rand der Plattform, während die Reste des Luftgeschwaders Kurs auf den Berg nahmen und die Skorpione versuchten, den Erdrutsch zu überwinden, der die Position ihrer Gruppe sichern sollte.
Sie legten die Waffen an. Zielten.
Der Krieg begann.