Ashley arbeitete sich Stück für Stück durch den Urwald, der die Grenze des Sumpfes bezeichnete. Sie hatte nichts dabei als einen Korb mit ein wenig Vorräten. Trotzdem musste sie Beeren sammeln, während sie ihren Auftrag erfüllte.
Es machte ihr nichts aus, allein zu sein. Stattdessen begrüßte sie es sogar, fern von dem Rest der Gruppe zu sein, denn in ihrem Kopf herrschte ein furchtbares Chaos, das sie kaum entwirrt bekam.
Jetzt, während sie nach Spuren von Drachenblut und dem Ursprung der Fallen suchten, hatte sie endlich Gelegenheit, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen.
Wie alle anderen hatte auch Ashley das Gedächtnis verloren. Doch sie merkte, dass sie sich an verschwommene Gesichter erinnern konnte, an Gesprächsfetzen und Gefühle. Es war nicht viel, doch es war der eindeutige Beweis, dass vor ihrem Leben hier noch etwas anderes gewesen war.
Wenn sie sich nur erinnern könnte!
Und wenn sie wüsste, welche verquere Wissenschaft ihr das Gedächtnis genommen hatte. Bis jetzt war sie der Lösung dieses Rätsels nicht einen einzigen Schritt näher gekommen. Alles, was ihr zu tun blieb, war versuchen, die wagen Erinnerungen festzuhalten, bevor ihr diese entglitten und für immer verschwanden.
Sie sortierte das Chaos im Kopf. Erstens einmal hatte sie früher an einem anderen Ort gelebt. Die ganze Zeit in der Wildnis herumzulaufen, kam ihr wild und fremdartig vor: sie hatte ein Leben im Luxus gehabt (oder in dem, was sie jetzt als Luxus empfinden würde), mit festem Wohnsitz, einer Familie, zwei sehr engen Freunden, mit geregelten Tagesabläufen, die nicht aus dem Sammeln von Beeren und dem Jagen von Dinosauriern bestanden.
Überhaupt – Dinosaurier. Ashley wusste viel über die Tiere, was nur darauf hindeuten konnte, dass sie sich mit dem Thema beschäftigt hatte. War es nicht vielleicht ein Berufswunsch gewesen? Allerdings kein Beruf mit lebendigen Dinosauriern – die gab es in Ashleys Heimat nicht.
Sie erinnerte sich kaum an ihre Eltern, und wusste auch nur noch, dass sie zwei Geschwister gehabt hatte. Da erinnerte sie sich noch deutlicher an ihren Freund und ihre Freundin! Für beide wäre sie durchs Feuer gegangen. Es schmerzte, dass sie keine Namen und Gesichter mehr wusste, und für einen Moment vermisste sie die beiden Unbekannten schmerzlich.
Doch an eine Sache erinnerte sie sich ebenfalls noch: An einen großen Selbstzweifel, an das untrügliche Gefühl, dass etwas grundlegend falsch war.
Dieses Gefühl verwirrte sie möglicherweise am deutlichsten. Dieses Gefühl hing sich daran auf, wenn man „sie“ zu ihr sagte. Sie wollte kein Mädchen sein. Sie fühlte sich ihrem eigenen Körper so fremd, als wäre es ein falscher Körper. Wann immer die anderen sie als Mädchen behandelten, fühlte sich Ashley verletzt. Sie kam nicht damit zurecht.
Während der ganzen Zeit, die sie hier verbracht hatte, war dieses Gefühl gewachsen und gewachsen, bis es sich größer als Ashley anfühlte. Es hielt sie des Nachts wach, es folgte ihr wie ein Schatten überall hin, selbst hier in der Wildnis konnte Ashley dem Gefühl nicht entkommen.
Sie war verwirrt. War das Teil ihrer Erinnerung? War sie möglicherweise wirklich im falschen Körper gefangen? Wer ihr Gedächtnis löschen konnte, war doch wohl zu allem fähig! Und wie sollte sie darauf reagieren? Sie wünschte sich, ihre Probleme jemandem anvertrauen zu können. Gleichzeitig würde sie das wohl niemals wagen und wollte es auch überhaupt nicht versuchen. Da war eine überwältigende Angst, die alle anderen Gedanken in ihr verdrängte, die sie nicht verstehen konnte. Falsch. Alles war falsch.
Als die Nacht hereinbrach, suchte sich Ashley einen Platz in der Krone eines hohen Baumes. Lange saß sie so da, starrte in den Himmel und versuchte, sich vorzustellen, wie ihr wahrer Körper sich anfühlen würde. So groß war der Unterschied nicht einmal, doch die Vorstellung kam Ashley tröstlich vor.
Sie musste für einen Moment eingeschlafen sein, denn plötzlich wurde sie geweckt. Sie riss die Augen auf.
Schon spürte sie es wieder: Die Erde zitterte, so heftig, dass die Blätter der Bäume laut raschelten. Ashley klammerte sich an den Ast, auf dem sie saß.
Das Beben hörte nicht auf, nein, es wurde schlimmer. Ashley spähte in die Nacht, die gerade erst in den Morgen überging. War das ein Erdbeben? Was sollte sie tun, wie konnte sie entkommen?
In das Beben mischte sich jetzt auch noch ein fernes Donnern, das immer lauter wurde. Ashley umschlang den Stamm des Baumes.
Schließlich erspähte sie einen sehr kuriosen Anblick. Denn am Horizont erschien eine Bergkette. Diese Bergkette kam näher.
Ashley starrte auf die Felsen, die sich ihr donnernd näherten. Ihr Gehirn konnte den Anblick nicht einordnen. Wankend kamen die Berge näher, eine komplette Felswand.
Sie blinzelte und betrachtete einen schmalen Berg, der irgendwie vor den anderen aufragte.
Ein Kopf, verstand sie plötzlich. Das war ein Kopf, so hoch, dass er über den Wolken schwebte.
Die Bergkette war ein lebendiges Wesen, dessen graue Haut von Flechten und Moosen überzogen war, schorfkantig und gefärbt wie die Berge.
Die Erde bebte unter den Schritten des Wesens. Langsam konnte Ashley mehr erkennen. Es war eine Art Langhals, aber so gewaltig, dass er niemals in Wahrheit existieren konnte. Und so alt, dass seine Haut zerklüftet wie ein Gebirge geworden war.
Doch Ashley erkannte auch etwas auf dem Rücken des Wesens. Dort, wie eine Berghütte, war ein Unterschlag aus Holz. Sie kniff die Augen zusammen.
Menschen liefen über den Saurier! Und jetzt konnte sie auch ein Gewirr langer Seile erkennen, die den Kopf des Riesen einfassten – wie ein Zaumzeug!
Der Gedanke war aberwitzig. Ashley sah zu, wie das gewaltige Wesen in einiger Entfernung vorbei zog. Bäume brachen unter den schweren Schritten wie Grashalme.
Aber es war unmöglich: Menschen konnten einen solchen Giganten niemals steuern!
Das große Wesen kam ein grollendes Geräusch von sich und der Kopf schwenkte ein Stück zur Seite. Ashley sah mehrere Menschen an einem Seil zerren.
Offenbar lenken sie das Wesen doch, durch welche verrückte Technik auch immer.
Der Langhals bog zum Glück von Ashley fort, denn sie war sie sich sicher, dass sie ihm niemals entkommen würde. Obwohl das Tier so gemächlich ging, war es unglaublich schnell.
Hinter dem Langhals folgten andere Tiere, in der Schneise, die der Riese geschlagen hatte. Sie wirkten winzig im Vergleich zu dem vordersten Tier, doch Ashley wusste, dass das trog. Es waren weitere Langhälse, riesige Fleischfresser, dazwischen große Vögel, die den Dodos ähnelten.
Und sicherlich gab es noch unzählige kleinere Wesen. Was Ashley beobachtete, war ein Zug von Giganten, eine Armee. Auf dem Rücken jedes Wesens hockte, winzig auf die Entfernung, ein Mensch, manchmal mehrere. Sogar ein Dreihorn entdeckte Ashley, so eines wie Diana. Doch es wirkte nur wie Spielzeug.
„Drachenblut“, flüsterte sie leise und klammerte sich an den Stamm.
Ihre Finger zitterten. Es konnte kein Zweifel bestehen, von einer anderen Gruppe wusste Ashley nicht, und sie bezweifelte, dass Drachenblut Konkurrenz geduldet hätte.
Sie suchen uns, wurde ihr klar. Drachenblut war auf der Suche nach der kleinen Gruppe, die einmal Thanatos gehorcht hatte und jetzt zerstritten im Sumpf saß.
Wenn dieser Riese das Lager niedertrampelte, würde er es nicht einmal bemerken. Ashleys Atem ging flach. Sie mussten fliehen, so weit wie nie zuvor. So weit, dass selbst Berge sie nicht mehr finden würden!
Gegen Drachenblut standen sie keine Chance. Sie waren so stolz auf ihr Krokodil gewesen. Jetzt erschien es Ashley lächerlich.
Zum Glück zog Drachenblut in eine andere Richtung. Selbst nachdem der Gigant fort war und die Erde nicht mehr bebte, konnte sich Ashley lange Zeit nicht rühren. Ihr war der Atem beinahe gestockt.
Endlich riss sie sich zusammen und kletterte vom Baum. Dann rannte sie los, schnell und geschickt durch den Wald, es gab kein Halten mehr.
Sie musste die anderen warnen.