Scarlett rannte durch den Wald, stark und unermüdlich wie ein Rennpferd. Das Rudel folgte seinem Alpha, dem roten Weibchen mit dem beeindruckenden Federkamm und den intelligenten, orangeroten Augen.
Ein Rudel von zwanzig Raptoren, nicht wenige davon hatte Vea selbst aufgezogen und ausgebildet.
Die braungebrannte Kriegerin saß auf Scarletts Rücken, den Kopf dicht neben dem schlanken, kräftigen Kopf des Raptors. Scarletts Körper bildete beinahe eine horizontale Linie, und Vea gab sich alle Mühe, dieser Linie ebenfalls zu entsprechen.
Der Wind blies ihr die dunklen Haare auf dem Gesicht. Der Velociraptor lief ruhig und gleichmäßig, es konnte einem wie ein Traum vorkommen, wenn der Wald vorbei glitt und weit im Rücken zurück blieb.
Adrien stieß ein kurzes, schnappendes Geräusch auf. Die anderen Raptoren blieben stehen, keckerten in ihrer eigenen Sprache. Vea beobachtete ihre Tiere, las in den reptilienartigen Gesichtern, in Körperhaltungen und gelben Augen.
Adrien hatte eine Spur entdeckt. Doch die Raptoren warteten auf Scarletts Befehl. Adrien war in ihren Reihen ein Sonderling. Er war Veas erster Zögling gewesen und ihr aus irgendeinem Grund der Liebste des ganzen Rudels. Die Raptoren merkten, genau wie Menschenkinder, dass Adrien bevorzugt wurde – und verachteten ihn dafür.
Am Anfang hatte es schwere Kämpfe gegeben. Schließlich hatte Adrien verstanden und seine Rolle akzeptiert. Er war der Außenseiter, ein Omega. Scarlett war das Alphatier. Trotzdem verließ Adrien das Rudel nicht. Er zeigte kein Zeichen von Trauer oder Verbitterung. Nein, der grün-blaue Raptor machte weiter wie zuvor.
Vea liebte ihn dafür nur umso mehr, ihren kleinen Raptor, der mit einem einzigen Bissen einen Artgenossen töten konnte.
Das Rudel rannte weiter, stürmte durch das Gebüsch, über Stock und Stein, der Boden musste von ihren Schritten beben.
Sie hatten die Spur eines Menschen gefunden. Dieser musste sie zu dem fremden Lager führen.
Vea beugte sich etwas weiter nach vorne, damit Scarlett ungehindert rennen konnte. Die Kriegerin führte den Spähtrupp von Drachenblut an, jedenfalls im Moment. Die anderen Siedler waren ihr beim letzten Mal entwischt, eine peinliche, demütigende Angelegenheit. Zur Strafe war die Anführerin aller Jäger von Drachenblut zur Vorhut degradiert. Eine gefährliche Position, in der sie allein gegen die Wildnis und ihre Schrecken stand. Doch Vea hatte dieser Wildnis schon unzählige Male ihr Leben abgetrotzt. Sie würde sich beweisen, würde das Vertrauen von Anthony Jayden zurückerlangen und wieder aufsteigen.
Die Raptoren gingen fließen in eine enge Kurve, ohne das Tempo zu drosseln. Sie erkämpften einen steilen Hang lockeren Gerölls, oben hielten sie an, witterten und schüffelten. Zwei Weibchen, Triss und Yennefer, fauchten und bissen nacheinander.
„Hey!“, rief Vea und zischte die beiden Betaweibchen an. Raptorenweibchen waren aggressiver als die Männchen, und es herrschte ein ständiger Kampf um die Position der Alpha. Vea musste ihre Stellung klar machen, ihre Dominanz wieder und wieder beweisen. Die beiden Weibchen verstummten – für den Moment.
Sie erhielt genug Gelegenheit, die Jagdpfeile auf ihrem Rücken zu ordnen, da rannten die Raptoren bereits weiter, mit Scarlett an ihrer Spitze. Vea streckte die Arme weit nach vorne, vergrub das Gesicht fast im Rückengefieder von Scarlett, ließ ihr vollkommen freien Lauf.
Scarlett flog dahin, schnell und unermüdlich.
Sie erreichten den Sumpf. Nach dem ersten größeren Wasserloch hielten die Raubsaurier verwirrt inne. Vea zog Scarletts Zügel an und die Alpha blieb stehen, schnaufte ein wenig vom weiten Lauf.
„Sucht! Sucht!“, befahl Vea drängend, gab die entsprechenden Gesten.
Die Raptoren senkten die Schnauzen zum Boden und suchten. Sie suchten eine Spur, einen schwachen Duft. Sie keckerten und zischten, während sie sich im nahen Wald verteilten. Vea lauschte den Lauten, die für sie beinahe so verständlich waren wie die Menschensprache.
An einer Seite röhrte plötzlich Wolf, ein schneeweißer Albino, und hob den Kopf. Das Geräusch, das er ausstieß, erinnerte tatsächlich an ein Wolfsgeheul.
Der Rest des Rudels strömte zu dem weißen Raptor. Knurrend nahmen die Dinosaurier die Spur auf.
Schon ging es weiter. Vea hatte ihre Räuber gut trainiert. Das war auch nötig gewesen. Anthony hatte deutlich gemacht, dass er nicht mehr als ein Rudel von zwanzig Raptoren versorgen konnte. Gab es überflüssige Tiere, so wurden Wettbewerbe veranstaltet. Die zwanzig Besten überlebten, der Rest wurde geschlachtet. Die Dinosaurier von Drachenblut brauchten Fleisch.
Vea war die Anführerin der Jäger gewesen, nachdem in einem solchen Wettbewerb alle ihre zwanzig Raptoren gesiegt hatten. Anthony Jayden hatte ihre Fähigkeiten erkannt. Er hatte sie gefördert. Und Vea hatte ihn nie enttäuscht, niemals.
Bis zu dem Tag, da ihr ein Dreihorn einen Strich durch die Rechnung machte. Die Gruppe der fremden Siedler entkam ihnen, floh in die Wildnis hinaus.
Vea wusste nicht, was an diesen Menschen so besonders war. Sicher, sie hatten länger überlebt als all die anderen kleinen Gruppen, die während langer Jahre im Land aufgetaucht und wieder verschwunden waren – ausgelöscht durch Saurier oder einverleibt von Drachenblut.
Aber Anthony Jayden kannte den Anführer dieser speziellen Gruppe.
„Thanatos“, sagte er mit grimmigem Blick, wenn er daran dachte. „Er könnte alles zerstören.“
Vea verstand das nicht und würde es wohl auch nie verstehen. Wer war Thanatos? Und was konnte er vernichten? Drachenbluts Mission? Wohl kaum, denn dazu war das Lager zu mächtig. Ging es möglicherweise um etwas anderes?
Sie war nur eine Kriegerin, eine Soldatin. Sie befolgte ihre Befehle, sie hinterfragte nicht. Einer der Gründe, warum sie die meiste Zeit über die Anführerin der Jäger gewesen war. Bis zu diesem dummen, dummen Fehler.
Die Raptoren jagten dahin, stille Schatten im Sumpfgebiet, wachsam und lautlos. Sie folgten der Spur, die mal stärker, mal schwächer war.
Und sie würden Drachenblut zu dem winzigen Lager, um es zu zermalmen.
Veath Makami hinterfragte ihre Befehle nicht. Sie führte sie nur aus, mit der Präzision eines Stiletts. Sie näherten sich dem Lager, das Jagdfieber ließ ihr Herz wilder pochen. Sie würde ihre Ehre zurückerlangen, und Thanatos' Gruppe würde für die Schmach bezahlen.
Anthony Jayden würde sie ansehen und sagen: „Gut gemacht, Soldat.“
Und wenn er wirklich stolz auf sie wäre, würde er sie beim Nachnamen nennen.
Vea würde ihre Stellung zurückerhalten, und damit den Befehl über fünfzig Mann, fünfzig Jäger, mit Rudeln von Raptoren, Tyrannosaurier, Carnotauren …
Sie würde ihren Platz an der Seite von Anthony Jayden zurückerhalten. Würde wieder Teil der Maschinerie von Drachenblut sein. Sie trieb Scarlett und die anderen Raptoren mit schrillen, kurzen Rufen an.
Schneller, schneller, meine Kinder, meine Mörder. Bringt mir Blut und Tod, bringt mir Ehre. Schneller. Bis zum Morgen, bis zum Abend danach, weiter und immer weiter, schneller. Blut für Ehre, meine Kinder. Schneller, schneller!