Die Raptoren rannten in einer Linie hintereinander her, die Körper dicht am Boden, die Arme an die Brust gezogen. Henry klammerte sich an den Sattel seines Raptors und biss die Zähne vor Angst aufeinander. Beim Laufen schlingerte der Raptor leicht hin und her, Henry fürchtete, aus dem Sattel zu fallen.
Lucy ritt voran und trieb ihr eigenes Reittier immer weiter. Der unberittene Raptor folgte, dann Henry und hinter ihnen brach Scaramouche durch das Unterholz, mit Galileo und Smiley auf dem Rücken.
„Können wir nicht anhalten?“, brüllte Henry laut. Sie waren mindestens einen ganzen Tag geritten. Ihm tat alles weh.
Er hatte nicht damit gerechnet, dass Lucy reagieren würde, doch sie zügelte ihren Raptor tatsächlich und ließ zu, dass sich aus der linienförmigen Fluchtformation ein kleines Knäul bildete, als die Raptoren nebeneinander gingen. Scaramouche schnaufte heftig.
„Lass uns eine Pause machen!“, wagte Henry einen weiteren Vorstoß, als Lucy nichts sagte. Das Mädchen wandte sich um, sah an ihm vorbei und blickte in den Wald hinter ihnen.
„Werden wir verfolgt?“, fragte Lucy. Henry war erschrocken, wie jung und desorientiert sie mit einem Mal wirkte. Als seien alle ihre Pläne zerstört worden und sie treibe nun ohne Rettungsring im Meer.
„Ich glaube, nicht“, meinte Galileo, der sich im Sattel umgedreht hatte, den zappelnden Smiley immer noch auf dem Arm.
„Sie werden bald kommen“, meinte Lucy und strich sich fahrig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Wir müssen in Bewegung bleiben.“
„Unsere Tiere brauchen eine Pause“, stellte Galileo fest. Tatsächlich wirkten die Raptoren und Scaramouche erschöpft, obwohl sich das nur schwer ablesen ließ: Die Dinosaurier schwitzten nicht und bis auf Scaramouche atmeten sie auch normal, doch sie schienen langsamer zu blinzeln. Henrys Raptor taumelte.
„Sie brauchen dringend eine Pause“, meinte er und dachte schuldbewusst an das eigene Gewicht.
„Gut“, Lucy saß ab und führte ihre Gruppe auf einen kleinen Hügel. Sie befanden sich irgendwo in einem Wald, Lucy hatte sich absichtlich von weiten, offenen Flächen fern gehalten.
Henry und Galileo saßen ebenfalls ab. Smiley durfte ein paar Schritte laufen, während die Reiter ihre müden Beine streckten.
„Scheiße, ey“, meinte Galileo. „Ashley ist wirklich tot, oder?“
Henry schluckte. Bis jetzt hatte er die Erinnerung an ihr anklagendes Gesicht verdrängt. Der nächste Tote in ihrer Gruppe, und sie wussten noch nicht, was aus Mikail, Kassia und Nokori geworden war.
„Ich habe versucht, ihr zu helfen“, meinte Lucy leise. „Ich habe es versucht.“
Dann ballte das Mädchen die Hände zu Fäusten. „Daran ist Mikail schuld! Er hat Kassia dazu überredet, uns im Stich zu lassen! Sie haben uns verraten!“
Henry tauschte einen betretenen Blick mit Galileo. Er konnte durchaus verstehen, dass Mikail geflohen war. Trotzdem ließ sich nicht leugnen, dass Ashleys Tod vielleicht verhindert worden wäre, wenn sie Lucys Plan befolgt hätten.
Vielleicht.
„Ich habe Hunger“, meinte Galileo und wechselte abrupt das Thema. „Kommst du mit auf die Jagd, Henry?“
Henry nickte, aber Lucy schüttelte den Kopf. „Henry, du fütterst die Saurier. Ich gehe mit Galileo. Ich bin die Jägerin.“
Henry wollte widersprechen. Es gefiel ihm nicht, von einem Kinder herumkommandiert zu werden, erst recht nicht nach dieser Katastrophe. Aber dann sah er etwas in Lucys Augen aufblitzen, etwas Hartes, Kaltes und Misstrauisches.
Sie ging mit Galileo, damit sie sich nicht gemeinsam davon machen konnten, um Lucy ganz alleine zu lassen. Es mochte nur die Angst eines kleinen Mädchens sein, verlassen zu werden – doch Henry zweifelte schon lange daran, dass Lucy ein normales, kleines Mädchen war.
Also nickte er und begann, Holz für ein Feuer und Beeren für die Saurier zu suchen, während Galileo und Lucy im Wald verschwanden.
Beim Abendessen schwiegen sie, aber Lucy zuckte bei jedem noch so leisen Geräusch zusammen. Ihre Paranoia wurde so übergreifend, dass auch Galileo und Henry nervös wurden.
„Glaubst du denn, sie sind uns so nah auf den Fersen?“, fragte Galileo irgendwann.
Lucy nickte stumm und verbarg das Gesicht bis auf die hin- und herhuschenden hinter ihrem Fleischstück.
Galileo nahm einen Schluck aus dem Wasserschlauch und sah sich beunruhigt um.
„Wir müssen weiter“, drängte Lucy. „Wir brauchen eine bessere Position.“
„Wir sind den ganzen Tag geritten! Ein wenig Vorsprung sollten wir doch haben!“ protestierte Henry laut.
„Außerdem sind die Saurier am Ende ihrer Kräfte“, warf Galileo ein.
„Wir führen sie. Aber wir müssen weiter, nach Norden am besten. Im Krieg sollte man immer die erhöhte Position suchen.“
„Du willst nicht zurück und die anderen suchen?“, fragte Henry. Er war davon ausgegangen, dass sie Drachenblut abschütteln und sich dann wieder zusammenfinden würden.
„Sie haben uns verraten!“, rief Lucy laut, nur, um sich im nächsten Moment zu ducken und ängstlich in den dunklen Wald zu spähen, ob ihr Ruf jemanden alarmiert hatte.
„Nein“, sagte sie leiser. Das Feuer warf zuckende, orange Schatten auf ihr Gesicht. „Sie haben uns im Stich gelassen. Wisst ihr – statt Ashley hätte es auch einer von euch beiden sein können, oder sogar wir alle.“
Henry schluckte. Unwillkürlich stellte er sich vor, wie es sich wohl anfühlen musste, von einem Pfeil durchbohrt zu werden. Schmerzhaft, wahrscheinlich. Und kalt.
„Denkst du trotzdem, dass wir so bald weiter müssen?“, hakte Galileo nach. „Bisher haben wir keinen Verfolger gesehen. Sie haben unsere Spur verloren und sind zu ihrem Lager zurückgekehrt.“
„Natürlich“, sagte Lucy. „Aber sie werden wieder kommen. Sie werden uns suchen. Sie werden uns finden. Und wenn es so weit ist, müssen wir bereit sein. Wir brauchen ein sicheres Versteck, eine Festung, wir brauchen Saurier und Waffen!“
Henry tauschte einen weiteren Blick mit Galileo. Er fragte sich, ob Lucy den Verstand verloren hatte.
„Warum denkst du, dass sie uns finden werden? Ich würde den Weg zurück schon jetzt nicht mehr finden!“, sagte Galileo.
„Ich kennt ihn nicht“, Lucys Augen wurden groß vor Angst. „Ihr wisst nicht, wie grausam Anthony Jayden sein kann!“
„Wer?“, fragte Galileo.
„Lucy, was verschweigst du uns?“, fragte Henry jetzt ebenfalls.
„Ich kann es euch nicht sagen“, meinte das Mädchen und schlug die Augen nieder. „Aber ich weiß, dass wir fliehen müssen, weil … weil ich mich erinnere.“