„Aaaaalteeeer!“
Nicht unbedingt Henrys geistreichster Kommentar, zugegeben, doch durchaus angemessen, angesichts der Tatsache, dass vor ihm ein riesiger, rot-weißer Giganotosaurus in Fleisch und Blut stand und ihm stinkenden Atem ins Gesicht blies.
Lucy stand an seiner Seite und grinste über das ganze Gesicht wie ein kleines Mädchen, das zum Geburtstag ein Pony bekommen hatte. Wenn man sie so ansah, konnte man sie für ein harmloses Kind halten – bis man sich in Erinnerung rief, dass das „Pony“ deutlich gefährlicher als ein verdammter T-Rex war, und bis vor Kurzem hatte Henry geglaubt, dass ein T-Rex das Schlimmste überhaupt sei.
„Ich bin beeindruckt“, sagte Liara, die etwa zweieinhalb Meter hinter ihnen lässig an einem Baumstamm lehnte. Aus ihren grünen Augen sprach echte Anerkennung.
„Und ich danke für deine Pfeile“, Lucy war offenbar in Feierstimmung, dass sie so mit Lob um sich warf. Nun klopfte sie Henry und Galileo jeweils auf die Schultern. „Gut gemacht, Männer!“
Wäre das Lob von Thanatos gekommen, hätte sich Henry vor Freude nicht mehr halten können. Doch von einem Kind gelobt zu werden – das war eine bizarre Situation und er hatte keine Ahnung, ob er sich überhaupt freuen sollte. Galileo schnaubte nur und brachte mit seiner ganzen Haltung ein stoisches Ismiregal zum Ausdruck, also bemühte sich Henry, es dem anderen nachzumachen.
Lucy beachtete sie beide nicht weiter, sondern trat vor und streckte eine Hand aus, um den breiten Schnauze des riesigen Monsters zu kraulen. Der Giganotosaurus schloss die Augen und prustete die Luft aus den Nüstern. Es war eine richtige Sturmböe, die außerdem nach verwesenden Fleisch roch. Henry und Galileo traten die Flucht zu Liara an.
„Das Mädchen ist ein bisschen …“, Liara beugte sich zu ihnen herüber und ließ den Finger neben der Schläfe kreisen.
„Vor allem ist sie eine riesige Nervensäge“, raunte Galileo zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Besagte Nervensäge drehte sich zu ihnen um und verkündete: „Ich nenne sie Roseanne!“
„Roseanne?“, wiederholte Galileo ächzend. „Ich dachte, wir geben den Tieren keine Namen mehr!“
„Nur denen nicht, die entbehrlich sind“, wand sich Lucy aus ihrer eigenen Regel heraus. „Und Rose hier ist ja wohl kaum entbehrlich, was?“
„Rose?“, wiederholte Henry. Aus irgendeinem Grund hatte er plötzlich ein Bild vor seinem Inneren Auge, ein Schiff mit vier Schornsteinen, das in voller Fahrt auf ein großes, weißes Hindernis zu fuhr … die Erinnerung verblasste ebenso schnell, wie sie gekommen war.
„Bist du dir sicher, dass es ein Mädchen ist?“, fragte er, um seine Verwirrung zu überspielen.
„Ich bin mir sehr sicher“, gab Lucy zurück. „Es sei denn, du möchtest das überprüfen?“
„Nein!“, sagte Henry entschieden. Es gab Dinge, die überließ man besser der Fantasie. Oder, wenn er genauer darüber nachdachte … die überließ man auch nicht der sehr fantasievollen Fantasie, sondern verdrängte sie, wenn möglich.
„So, können wir dann weiter ziehen?“, fragte Lucy, nachdem diese Diskussion gewonnen war.
Henry und Galileo ächzten erneut, diesmal synchron. Sie hatten die ganze Nacht damit zugebracht, den großen Fleischfresser mit dem sehr albernen Namen zu zähmen, ihnen stand der Sinn nur noch nach einem achtzehnstündigen Mittagsschläfchen.
„Wo wollt ihr denn hin?“, ließ sich Liara vernehmen.
„Weg von Drachenblut“, fasste Lucy eines der Hauptprobleme ihrer Gruppe zusammen – sie hatten kein richtiges Ziel.
Liara wirkte verwirrt. „Drachenblut?“
„Kennst du das Lager nicht?“, fragte Henry. „Du Glückliche.“
„Wovon redet ihr?“, Liara sah vom einen zum anderen.
Lucy klopfte ihrem neuen Saurier auf die mächtige Brust und erklärte: „Wir sind nicht die einzigen Menschen hier, weißt du? Es gibt noch mehr – einige waren in unserer Gruppe, und dann gibt es eben noch das Drachenblut-Lager.“
„Andere … Menschen?“, wiederholte Liara ungläubig.
„Was, dachtest du, du hättest die Insel für dich?“, fragte Lucy. Liaras entgeisterter Blick machte deutlich, dass die Schlange das wirklich gedacht hatte. Also setzte sich Lucy zu ihr und begann mit der Erklärung. Henry tauschte einen Blick mit Galileo und sah, dass der andere Mann der Gruppe genau das gleiche dachte. Während Liara also die ganze Geschichte erfuhr, von Lucys Erwachen am Sandstrand, dem Leben unter Thanatos' Führung und schließlich dem Streit und dem Angriff von Drachenblut, verkrochen sich Henry und Galileo klammheimlich im Gebüsch und hauten sich auf die Ohren. Sie hatten immerhin die Nacht durchgearbeitet, nicht so wie Liara, die sich zwischendurch ausgeruht hatte, und Lucy, die bloß wichtigtuerisch im Weg gestanden hatte.
„Wie viel könnt ihr beiden eigentlich essen?“, fragte Lucy, als sie beim Abendessen um ein prasselndes Feuer saßen, fast wie in alten Zeiten, und Henry soeben sein viertes, Galileo sein fünftes Steak aß.
„Ihm sieht man das ja nicht an“, meinte Henry und warf einen neidischen Blick zu Galileo. Der Langhaarige hatte den Mund voll und konnte nicht antworten, sah aber sehr selbstzufrieden aus.
Lucy schüttelte nur den Kopf. Liara lachte leise. „Ihr seid ja richtige Survivor. Das Leben in der Wildnis ist euch in Fleisch und Blut übergegangen.“
„Pah, ich habe nicht darum gebeten, hier zu sein!“, schimpfte Henry, dann hielt er inne. „Glaube ich.“
„Natürlich wollten wir nicht hier sein“, sagte Lucy mit überraschender Sicherheit. Dann erstarrte das Mädchen, als hätte sie zu viel gesagt.
„Wie meinst du das?“, hakte Henry nach.
„Wer sucht sich das hier schon aus?“, Lucy gestikulierte gegen die Saurier, die sie umringten, gegen die Bäume und den unschuldigen Himmel.
„Du vielleicht“, schnaubte Liara und schob sich eine Beere zwischen die Lippen. Sie hatte sehr wenig gegessen und schien ihre Mahlzeiten eher über mehrere Stunden hinweg zu strecken. Henry biss ein weiteres Stück von seinem Steak ab. Er vermisste den Geschmack von Fleisch aus seinem früheren Leben. Obwohl er sich nicht mehr wirklich erinnern konnte, so war er sich sicher, dass das Essen damals sehr viel geschmackvoller gewesen war; dagegen schmeckte das Fleisch vor seiner Nase irgendwie nach Asche.
Das Feuer brannte inzwischen herab, denn das Holz war aufgebraucht. Henry streckte sich und fühlte sich dummerweise ausgeruht. Lucy schien ihm das anzusehen, jedenfalls sagte sie: „Wir sollten so schnell wie möglich weiter ziehen.“
„Du meinst, nachts?“, fragte Galileo resigniert.
Lucy nickte. Niemand widersprach, nicht unbedingt aus Respekt vor dem Mädchen, sondern eher, weil sich die Angst vor Drachenblut langsam zu echter, greifbarer Paranoia entwickelte. Selbst Liara schien, nach dem, was Lucy ihr erzählt hatte, überaus beunruhigt. Also beendeten Galileo und Henry ihre jeweiligen Steaks, fütterten die hungrigen Tiere und packten dann ihre wenigen Sachen zusammen. Lucy kletterte selbstsicher auf den Rücken von Roseanne. Liara hatte den Raptoren erhalten, der bei ihrer Flucht für Ashley gedacht gewesen war und deshalb keinen Reiter hatte. Galileo stieg auf Scaramouches Rücken, den kleinen Smiley auf dem Arm, obwohl der Parasaurus in rasantem Tempo wuchs und sicherlich bald zu schwer werden würde.
Henry stieg auf „seinen“ Raptoren und seufzte stumm, als das Tier unter ihm ächzte. Weniger Steaks, nahm er sich im Stillen vor. Wohl wissend, dass er das sowieso nicht durchhalten würde.
So ritten sie in die Nacht hinaus.