„Wiederhole das!“, herrschte er die Jägerin an. Wütend starrte Anthony auf Veath Makami, oder besser auf ihren Hinterkopf, denn die Jägerin kniete vor ihm, den Kopf bis zum Boden geneigt.
„Sie sind entkommen“, wiederholte sie gehorsam. „Wir haben eine erwischt, sie ist tot. Die anderen konnten fliehen, mit dreien unserer Raptoren. Wir haben die Verfolgung aufgenommen, meine Jäger verfolgen sie immer noch, doch … wir mussten zuerst einen Beelzebufo und einen Sarco besiegen – die Flüchtigen haben einiges an Vorsprung.“
„Ihr habt euch von den lächerlichen Sauriern dieser lächerlichen Gruppe hereinlegen lassen“, fasste Anthony Jayden zusammen. Veath Makami schwieg.
„Was ist mit Thanatos?“, fragte Anthony weiter. „Habt ihr ihn gesehen?“
Diesmal sah die kräftige Kriegerin auf. „Nein, Herr. Ich habe nach ihm Ausschau gehalten, doch er war nicht zu sehen. Vielleicht … vielleicht ist er tot, oder er hat die Gruppe verlassen.“
„Tot? Thanatos und tot?“, Jayden lachte rau. „Du ahnst nicht, wie falsch das klingt, Jägerin. Thanatos ist nicht tot. Sucht ihn. Er muss noch irgendwo sein, und ich will, dass er hierher kommt, als Gefangener. Er muss für seinen Verrat bezahlen.“
Makami nickte und wich seinem Blick wieder aus. „Wie Ihr befiehlt.“
Jayden unterdrückte ein Seufzen. Ihm gefiel nicht, was er nun tun musste. Er trat auf Makami zu. Als er direkt vor ihr stand, war sie gezwungen, den Blick von seinen Füßen zu heben.
„Du erhältst die Führung deiner Jagdgruppe zurück“, sagte Jayden. „Dein Nachfolger hat sich als noch unfähiger erwiesen, es ist also keine Ehre, sondern eine Notwendigkeit. Du wirst diese Überlebenden fangen oder töten, alle von ihnen, um deine Ehre wiederzuerlangen.“
Veath nickte. „Selbstverständlich.“
Anthony Jayden sah auf seine Jägerin. Sie war loyal, und schon das machte sie zu seiner zuverlässigsten Anführerin. Doch sie durfte in dieser Aufgabe nicht versagen. Wenn sie wüsste, wie viel von der Last abhing, die er ihr auflud, wenn sie ahnte, wie gefährlich Thanatos für Drachenblut war – Anthony wollte nicht länger darüber nachdenken.
„Du kannst aufstehen“, sagte er zu Makami und drehte sich um. Die Jägerin ging und ließ Jayden in seinem erhöhten Zimmer alleine.
Ihm gehörte der mächtige Wachtturm, der auf dem Dach des Hauptgebäudes stand. Jayden trat an eines der Fenster und sah hinaus, fühlte den Wind auf der Haut. Von unten drang Musik herauf, das Röhren unterschiedlicher Saurier und die bellende Stimme von Hank Satumaa, der die werdenden Soldaten drillte. Anthony lauschte dem „Hepp, hepp, hepp“ der Liegestütze, das aus der Sporthalle kam. Er betrachtete das gewaltige Lager, das wimmelte wie ein Ameisenhaufen. Die Kundschafter kreisten mit ihren Flugsauriern durch den Himmel, und an den Käfigen unten eilten die Stallburschen hin und her, fütterten die riesigen Saurier mit Pflanzen oder Fleisch. Die Jäger, jedenfalls ein Teil von ihnen, durchkämmte das angrenzende Land mit schwerfälligen Pflanzenfressern, um neue Nahrung herbei zu schaffen.
Das Land um das Drachenblutlager war öd und kahl geworden. Die meisten Bäume waren gefällt worden, die Pflanzen wuchsen in Quadraten von einigen Kilometern Kantenlänge, Feldern, die abgestreckt worden waren, damit die Pflanzen in einem Teil sich erholen konnten, während anderswo gesammelt wurde.
Drachenblut war wie ein riesiges, hungriges Wesen, dass sich in die Insel hinein fraß. Sie waren stark, mächtig. Und bald genug würden sie bereit sein, ihre Aufgabe zu erfüllen. Sie würden einen Drachen beschwören, das mächtigste, gefährlichste Wesen der Welt. Und Anthony Jayden selbst würde diesen Drachen reiten.
Dann wäre alles entschieden. Bis dahin arbeitete Drachenblut, ein riesiger Organismus.
Sie durften sich keine Störung erlauben. Thanatos kannte Anthonys Plan, und dem dunkelhäutigen Krieger war es zuzutrauen, dass er diesen Plan vereiteln würde.
Anthony fasste den Rahmen des offenen Fensters fester, presste das Holz unter seiner Hand zusammen. Thanatos. Dieser Verräter war irgendwo dort draußen, wo der Horizont den weiteren Teil der Insel verbarg. Thanatos hatte deutlich gemacht, dass er Anthony aufhalten wollte. Wieso sich Thanatos dazu mit dieser schwächlichen Gruppe von Verlieren zusammengetan hatte, war ein Rätsel – doch eines, das Anthony ergründen musste, vernichten musste.
Er sah nach unten, wo eine kleine, doch vertraute Gestalt den großen Platz überquerte. Veath Makami sammelte ihre übrigen Raptoren ein und ritt ohne Umschweife los. Ihre Reittiere würden sie bald zum Rest des Rudels führen, auf die Spur der Flüchtigen. Jayden sah ihr hinterher, bis sie zu klein wurde, um noch Einzelheiten zu erkennen.
Seine Hoffnung, auch wenn er das nicht zugeben würde, was Veath Makami. Er würde ihr sein Leben anvertrauen, und hatte das schon bei ihrem ersten Treffen gewusst. Makami besaß eine Aura, eine starke, beschützerische, loyale Aura, die ihm Vertrauen einflößte. Doch war es unbegründetes Vertrauen, wenn sie ein kleines Lager von unerfahrenen Neulingen nicht vernichten konnte.
Waren Thanatos' Verlierer möglicherweise stärker, als es den Anschein hatte? Gab es Geheimnisse, die Anthony ergründen musste – hatte Thanatos den Neulingen seine Tricks beigebracht, oder – was für eine grausige Vorstellung! – die Wahrheit über die Insel erzählt?
Jayden schüttelte es bei dem Gedanken. Niemand außer ihm und Thanatos kannte das Geheimnis dieser Insel, ihre Bedeutung und ihren Daseinszweck. Es musste ein Geheimnis bleiben. Die Folgen, wenn alle darum wüssten – sie konnten katastrophal sein, apokalyptisch.
Wer wollte schon die Wahrheit hören, und erfahren, wie sinnlos ihr Leben an diesem Ort war? Für Anthonys Plan, für Drachenblut, war es essentiell, dass niemand die Wahrheit erfuhr.
Denn ansonsten würde der ganze Komplex in sich zusammenstürzen wie ein Kartenturm beim ersten Lufthauch.
Der einzige Weg – davon war Anthony überzeugt, und darüber hatte er am häufigsten mit Thanatos gestritten – bestand darin, den Drachen zu beschwören und dieser Welt den eigenen Willen aufzuzwingen, ehe die Wahrheit ans Licht kam.
Thanatos hatte das Gegenteil vorgeschlagen: Erst die Wahrheit, dann der Drache. Deswegen, allein deswegen, musste Anthony darauf vertrauen, dass Veath Makami die anderen Siedler tötete, und nicht von ihnen erfuhr, was in Wahrheit geschah.
Anthony Jayden starrte auf sein Lager herab. Saurier kreisten durch den Himmel, grasten auf ihren Weiden, dümpelten im Wasser. Von allen Tierarten der Insel hatten sie mindestens ein Exemplar gezähmt, selbst die dummen Dodos, selbst die Riesenspinnen und Titanoboas, selbst jene Wesen, die als unzähmbar galten.
Mit einer Ausnahme: Es fehlte der Drache, und für diesen Drachen fehlte ihnen noch eines von drei magischen Artefakten, denn das dritte Artefakt war verloren gegangen. Die Späher suchten danach. Sie würden es finden, eines Tages.
So lange musste Jayden noch warten. So lange durfte niemand die Wahrheit erfahren, die schreckliche Wahrheit.