Der Sumpf war ein gefährliches Land gewesen, zu gefährlich. Das geringste Übel waren noch die riesigen Krokodile und Kröten, die bluthungrigen Moskitos in Kopfgröße und die giftigen Schlangen gewesen. Die größte Gefahr für Mikail war von den Menschen ausgegangen, den Mitgliedern seiner eigenen Gruppe. Wenn Thanatos ihn wieder zu fassen bekam, dann wusste Mikail nicht, was geschehen würde. Der dunkelhäutige Krieger könnte ihn umbringen! Auf jeden Fall aber würde er dafür sorgen, dass es nicht noch eine Flucht geben würde. Mikail wäre gezwungen, tödliche Waffen zu bauen, ohne Hoffnung auf Erlösung.
Also war er geflohen. Er hatte ein schlechtes Gewissen, immerhin ließ er Kassia im Stich, der er nicht nur seine Freiheit verdankte. Doch er konnte einfach nicht riskieren, dass jemand anderes als die rothaarige Sammlerin ihn in einem Versteck fand, in einer Erdkuhle oder im Geäst eines Baumes, wo auch immer er sich zu verkriechen trachtete, wenn er schlafen wollte.
Da auch die Gefahr durch Drachenblut nicht gebannt war, hatte sich Mikail in die entgegengesetzte Richtung aufgemacht. Was ihn vorwärts trieb war der Wille, nicht in Gefangenschaft zu geraten. Er wanderte durch den Sumpf, über mehrere Tage hinweg, damals noch paranoid und nah am Hungertod.
Doch er lernte schnell, dass die Nahrungsbeschaffung nicht einmal besonders schwer war. In ihrer Gruppe, unter Thanatos' Leitung, hatte es schwierig gewirkt. Die Hälfte der Menschen war damit beschäftigt gewesen, zu jagen oder Beeren zu sammeln – doch sie hatten ja auch für den Rest der Gruppe gejagt und gesammelt. Nun musste Mikail nur für sich selbst sorgen. Er aß die Beeren, die er fand, und damit kam er schließlich aus dem Sumpf heraus und in ein Gebiet, das ihm mehr Reichhaltigkeit bot.
Umringt von sanft geschwungenen Hügeln erstreckte sich hier ein riesiger Wald. Mikail fand unzählige Bachläufe, an denen er seinen Durst stillen konnte. Er fand riesige Felder von Beerenbüschen, die auch alle Früchte trugen. Endlich gelang es ihm, seine Konzentration auf etwas anderes als Nahrung zu richten. Nachdem er zuvor jedem Zeichen des Lebens ausgewichen war, vor jedem Geräusch und jeder Fußspur zurückgeschreckt war, begab er sich jetzt auf die Jagd. Er bastelte sich einen Speer und fand in einem kleinen Tal eine Gruppe von kleinen, plumpen Dodos.
Die kleinen Vögel waren zutraulich, als könnten sie sich nicht vorstellen, dass irgendein Wesen ihnen Böses wollte. Mikail brachte es lange Zeit nicht über sich, die Vögel eines Besseren zu belehren. Also nutzte er die ersten Tag im Wald lieber, um sich eine kleine, versteckte Hütte in einer Baumkrone zu schaffen, und regelmäßig sein kleines Lager von Beeren aufzufüllen.
Statt die Dodos zu jagen, gab er ihnen ein paar von seinen Beeren. Nach wenigen Stunden schon watschelten die Vögel in alle Richtungen hinter ihm her. Und, so fand er heraus, die kleine, tollpatschige Armee konnte ihm beim Tragen helfen. Ein Dodo alleine konnte nicht viel schleppen, aber in der Masse konnten sie genug Holz transportieren, dass er innerhalb weniger Stunden mit seiner Hütte fertig war. Die Vögel waren auch ausgezeichnete Erntehelfer, und Mikail besaß nach einem Tag mehr Beeren, als er jemals essen konnte.
Im letzten Abendrot dieses Tages saß er inmitten einer gurrenden Menge der winzigen Vögel und warf ihnen Beeren in die aufgesperrten Schnäbel. Ein paar der Vögel ließen sich kraulen, andere zankten in einiger Entfernung um einen Ast.
Die große Anzahl der Vögel hatte nur einen Nachteil: Ihre Exkremente bedeckten den ganzen Boden in jeder Richtung. Mikails einzige Hoffnung war, dass die Pflanzen auf dieser Erde besser wachsen konnten. Als er schließlich in seine Hütte kletterte, versuchten ein paar Dodos, ihm zu folgen, doch die Vögel waren nicht zum Klettern gebaut.
Während unten eine schnatternde Menge um den Baum in unruhigen Schlaf fiel, starrte Mikail in den Sternenhimmel und fragte sich, was Kassia im Moment wohl dachte. Ging es ihr gut, oder hatte Thanatos erfahren, was sie getan hatte? Der Gedanke, dass Kassia jetzt statt seiner im Gefängnis schmachtete, war fast unerträglich. Am liebsten wäre Mikail sofort zurückgekehrt und hätte sie befreit, doch er wusste, dass dieses Risiko einfach zu groß war. Thanatos würde ihn töten, oder – noch schlimmer – zu seinem Werkzeug für noch mehr Tod machen.
Also fiel Mikail nach langen Sorgen in einen unruhigen Schlaf.
Er wurde von unruhigem Keckern geweckt. Als er nach unten spähte, hatten die Dodos ein enges Knäul gebildet, einen zitternden Haufen von Federn und Schnäbeln.
Mikail sprang förmlich aus dem Baum und nahm seinen Speer als Waffe. Bald hatte er entdeckt, was die Tiere in solche Aufregung versetzt hatte: Ein kleiner Raubsaurier, einer in der Art, von der auch Oskar gewesen war, schlich um die Dodo-Herde herum. Mikail bahnte sich seinen Weg zwischen den plumpen, verängstigten Vögeln hindurch. Der kleine Raubsaurier sah ihn und fauchte. Drohend stellte er den Nackenschild auf.
Mikail hielt inne. Er war ein friedfertiger Mensch. Er konnte kein lebendes Wesen verletzten, nicht einmal ein so hässliches! Er konnte es einfach nicht.
Da sprang der Raubsaurier nach vorne und schnappte nach einem Dodo, der mit einem Aufschrei davon stob. In Mikail legte sich ein Schalter um, und der Speer flog, bevor er noch richtig darüber nachgedacht hatte.
Die Steinspitze bohrte sich in die Seite des Raubsauriers, der einen hohen Schrei ausstieß, ein paar Schritte stolperte und dann auf den Boden fiel, wo er leblos liegen blieb.
„Du rührst meine Dodos nicht an“, keuchte Mikail, umringt von verwunderten Vögeln, die keine Ahnung hatten, was soeben passiert war.
Seine Beute zu zerlegen war eine widerliche Aufgabe, an die Mikail niemals zurückdenken wollte. Er zerschnitt den Raubsaurier, teilte das Fleisch und entdeckte dabei mehr vom Innenleben eines Lebewesens, als er jemals wissen wollte. Doch nach einer Weile über dem Feuer, und nachdem er sich die blutigen Hände gewaschen hatte, begann das Fleisch endlich nach Nahrung auszusehen.
Er vergrub das Meiste seiner Beute in einer kleinen Holzkiste unter dem Baum, damit das Fleisch hoffentlich eine Weile vorhielt. Bei dieser Arbeit hörte er plötzlich einen Dodo aufgeregt gluckern. Als Mikail besorgt nachsehen ging, in dem Glauben, dass ein neuer Feind aufgetaucht war, fand er stattdessen ein großes, helles Vogelei.
Der Besitzer dieses Eis ging offenbar nicht davon aus, dass darin etwas lebte, sondern watschelte davon und versuchte, einen Stein zu fressen. Mikail dagegen nahm das Ei behutsam an sich und briet es ebenfalls über dem Feuer. Seine Mahlzeit aus Fleisch, Ei und Beeren kam ihm wie ein Festmahl vor, und das, obwohl mehrere neugierige Schnäbel seine Beeren zu stehlen versuchten. Umringt von den Vögeln, im Schatten des Baumes, der ihm eine neue Heimat geworden war, empfand Mikail endlich wieder Hoffnung. Er fütterte die Dodos grinsend, die allerdings niemals satt zu werden schienen, und versuchte, die nagenden Sorgen zu verdrängen.
Doch die Sorge um Kassia blieb, und ebenso die Frage, war aus der Gruppe geworden war. War Thanatos auf der Suche nach ihm? Konnte der Krieger ihn finden, sollte Mikail vielleicht noch weiter fliehen?
Er konnte keine Antwort auf diese Fragen finden. Schließlich entschied er, zu bleiben, wo er war. Denn möglicherweise wollte er Kassia eines Tages wiederfinden, und das ging nicht, wenn eine ganze Welt zwischen ihnen lag.
Ein Dodo stieß Mikail in die Seite, bis dieser den Vogel kraulte. Ein anderer schnarchte ganz in der Nähe laut.
Mikail seufzte. Für den Moment konnte er nichts tun, außer zu überleben.