Sie hatten sich an der Schneegrenze gehalten und waren durch das nasse Weiß gestapft in der Hoffnung, das der Schnee ihre Fährte aufnehmen und verschlucken würde. Doch wenn es nicht gerade schneite oder regnete – an der Grenze lag beides nah beieinander – so hinterließen ihre Saurier Fußstapfen, die noch Stunden später nicht zu übersehen waren. Die inzwischen wieder aus zwölf Diphlos bestehende Wilde Dreizehn tollte überall durch den Schnee, Fandango, Scaramouche und Roseanne hinterließen die tiefsten, größten Spuren, die man auf einer Flucht nur fürchten konnte.
Zu allem Überfluss wurden die gestohlenen Raptoren nervös, drehten sich hin und wieder keckernd um und hoben die Schnauzen in den Wind. Für Lucy bedeutete das nach eigener Aussage, dass die Tiere offenbar ihre Artgenossen rochen – die Raptoren von Drachenblut.
Henry war mehr als nur ein wenig entsetzt über Lucys Verdacht. War Drachenblut ihnen wirklich auf den Fersen? Bisher hatte er Lucys Paranoia für übertrieben gehalten, doch wie es schien, kamen die Verfolger unaufhörlich näher. Da half es auch nicht, dass ihre großen Saurier auch große Haufen hinterließen, unansehnliche, braune Türme, die auf dem Schneefeld nicht zu übersehen waren.
Lucy zügelte Roseanne, die mit einem Schnauben stehen blieb. Die Wilde Dreizehn, die verstreut das Land um sie her abgesucht hatte, zog sich wie ein Ring um die Gruppe zusammen, als auch die anderen anhielte.
„Wir gehen in den Wald“, Lucy hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, die Gruppe vor getroffene Entscheidungen zu setzen.
„Laufen wir dann nicht direkt auf Drachenblut zu?“, fragte Galileo, obwohl er es besser wissen müsste – Lucy hatte entschieden und ihr Entschluss stand fest.
„Sie sind im Wald, aber auch hinter uns“, erklärte das Mädchen. „Unsere einzige Chance ist die Deckung zwischen den Bäumen. Auf dem Schneefeld sind wir leichte Beute.“
„Leichte Beute?“, Liara hob eine Augenbraue. „Du hast mitbekommen, auf was du da sitzt, richtig?“
„Und du hast mitbekommen, was ich dir über Drachenblut erzählt habe, richtig?“, gab Lucy giftig zurück.
„Vorsichtig, du Göre“, Liara trieb ihren Raptor vorwärts. „Pass auf deinen Ton auf!“
Es war bezeichnend, dass Lucy nichts entgegnete. Liara richtete sich zufrieden im Sattel auf. „Schonmal daran gedacht, dass wir uns in die Berge schlagen könnten? Ich wette, dass uns Drachenblut dort nicht lange verfolgen wird. Die Berge sind voller Gefahren und voller Verstecke.“
„Na wunderbar“, brummte Henry über die vielen Gefahren. Wieso konnten sie nicht dazu zurückkehren, Abends am Lagerfeuer zu sitzen, Steaks zu grillen und tagsüber gemütlich an der Hütte zu bauen?
„Du kannst das ja gerne versuchen“, Lucy machte zur allgemeinen Überraschung Anstalten, abzusteigen. Sie sprang auf den Boden und ergriff die Zügel von Liaras Raptor.
„Was?“, fragte Liara überrumpelt.
„Nimm Roseanne und reite in die Berge. Nimm auch die Wilde Dreizehn mit.“
„Bist du völlig übergeschnappt?“, fragte Liara und Henry fügte hinzu: „Lucy, wir brauchen die Saurier! Dachte ich.“
„Es ist ein Ablenkungsmanöver“, erklärte Lucy gedehnt, als wäre das offensichtlich. „Liara, du reitest mit den Sauriern, die die meisten Spuren hinterlassen, in das Schneefeld rein. Wir schlagen uns in den Wald. Sobald du sicher bist, dass Drachenblut es nicht bemerkt, kommt du hinter uns her.“
„Und wie finde ich euch wieder?“, fragte Liara, die zwar immer noch eine ablehnende Haltung einnahm, allerdings überzeugt wirkte.
Lucy zückte ein Fleischstück und gab es einem der Diphlos, während sie ihn kraulte.
„Du findest uns nicht – wenn alles gut geht. Aber die Wilde Dreizehn schon.“
Liara saß ab. „Na gut. Okay.“
Sie ritten zu dritt weiter, zockelten in gemütlichem Tempo durch die dichten Wälder und preschten in wildem Galopp über alle Lichtungen, den Blick zum Himmel, falls sich ein berittener Flugsaurier zeigte.
Henry und Galileo hatten inzwischen getauscht. Henry ritt auf Scaramouche und Galileo auf einem der wendigen und schnellen Raptoren. Lucy und Galileo huschten hier- und dorthin, um falsche Spuren zu legen, während Henry mit den beiden Dreihörnern das Herzstück ihrer kleinen Gruppe bildete und schnurstracks in die tiefsten Wälder zog.
Immer häufiger erschienen Galileo oder Lucy von der Seite.
„Henry, halte dich weiter links. Vor uns ist etwas Großes.“ oder „Siehst du den großen Baum da vorne? Auf keinen Fall dorthin.“
Ohne Roseanne, mitten in den feindlichen Wäldern, wurden sie wieder zu leichter Beute. Sie hatten nicht viele „Waffen“: Scaramouche und Fandango waren stark, aber nicht unbesiegbar, die Raptoren zu zweit auch nicht unbedingt die gefährlichsten Jäger und Smiley war … nun, inzwischen immerhin etwas größer als ein Hund. Die Wälder wimmelten vor großen Räubern und die Gruppe Raptor konnte sich nicht leisten, ihnen zu begegnen.
Sie machten eine kurze Pause, als es Mittag wurde. Die Pflanzenfresser konnten grasen, die Raptoren bekamen Fleisch, Henry, Galileo und Lucy schlangen ihren Proviant mit ein paar Beeren herunter.
Sie wollten gerade aufbrechen, als die Erde plötzlich unter schweren Schritten donnerte. Alarmiert sahen sie einander an und griffen nach ihren Speeren. Fandango und Scaramouche bildeten mit gesenkten Nackenschilden eine sehr kurze Mauer und die Raptoren kauerten sich dahinter sprungbereit an den Boden.
Ein riesiges, rot-weißes Monster brach vor ihnen aus dem Unterholz und blieb verdutzt stehen, als es die kampfbereite Truppe sah. Im Schlepptau führte es ein Rudel von Diphlosauriern.
Es war Liara die Schlange. Henry, Galileo und Lucy entspannten sich erleichtert.
„Was macht ihr denn hier für ein Picknick?“, fragte Liara entgeistert. „Ich dachte, wir sind auf der Flucht.“
„Wir wollten gerade weiter“, gab Lucy zurück, offenbar in ihrem Stolz verletzt. Henry verkroch sich lieber klammheimlich auf Scaramouches Rücken statt Lucys Zorn auf sich zu beschwören.
„Dann weiter“, drängte Liara. „Ich hab sie gesehen – ein Dino, so groß wie ein Gebirge!“
„Haben sie dich bemerkt?“, fragte Lucy, während auch sie und Galileo in den Sattel stiegen. Henry fühlte, wie sein Herz plötzlich raste und seine Hände feucht wurden.
„Ich weiß es nicht“, sagte Liara. Das war nicht die Antwort, die sich Henry erhofft hatte.
Lucy fluchte und trieb ihren Raptor an. „Dann vorwärts, los!“
Sie preschten durch den Wald, jetzt schnell und rücksichtslos. Die Raptoren eilten voran, doch nun brauchten sie sich weniger Sorgen um die großen Fleischfresser der Wälder zu machen. Sie hatten Roseanne wieder in ihrer Mitte. Sie ritten bis in die Nacht hinein. Sie ritten die Nacht hindurch. Sie ritten noch, als die Sonne sich wieder erhob und sich unter den Bäumen ein grünes Zwielicht ausbreitete.
Henry fühlte sich zerschlagen von dem langen Ritt. Scaramouche donnerte in unverändertem Tempo dahin, mit langen, schweren Sprüngen. Smiley hüpfte hinterdrein, es folgte Roseanne und die Wilde Dreizehn. Doch die Angst wuchs. War Drachenblut schon so nah hinter ihnen? Wie kurz stand der Kampf bevor?
Lucy tauchte vor ihnen aus dem Gebüsch auf, ihr Raptor schnaubte erschöpft von dem schnellen Tempo.
„Hier lang!“, rief das Mädchen und trieb ihr Reittier voraus. Henry folgte, ohne Fragen zu stellen. Sie brachen aus dem grünen Zwielicht auf und überquerten eine Lichtung, als er endlich sah,was ihr Ziel war: Über dem Wald erhob sich ein grüner, mächtiger Berg mit einer allem Anschein nach abgerundeten Kuppel.
Eine gute Position, um einen übermächtigen Gegner in Empfang zu nehmen.