Mit unbewegter Miene sah Jayden auf das Schauspiel, das rund um den Berg entbrannte. Menschen und Saurier liefen in alle Richtungen, schrien, brüllten und schnauften. Unzählige Tote bedeckten den Hang des Berges vor ihnen. Sie waren erschossen worden, aus dem Himmel geschleudert, erstickt an giftigen Dämpfen oder einfach von ihren Mitkämpfern niedergetrampelt worden.
Nokori konnte das Grauen nicht fassen, das sich vor ihr erstreckte. Das Wissen, dass sie die Verteidiger des Berges kannte, machte es nicht besser. Sie versuchte, sich Kassia oder Mikail mit einer Schusswaffe in der Hand vorzustellen. Es schien unmöglich, und doch – von dme Hügel krachten Schüsse und säten Tod und Verwüstung unter den Drachenblütlern.
Der Krieg konnte offenbar aus allen Menschen Monster machen.
„Jayden!“, ein junger Mann kam auf einem Raptor angegriffen. „Meldung von Makami, Sir. Sie haben eine Überläuferin, nach eigenen Angaben die Giftmischerin. Sie behauptet, ein Gegengift für uns zu haben, Makami ist der Meinung, dass es ein Trick ist. Sie erbittet Befehle, Sir.“
Jayden wandte sich dem Mann zu. „Was für ein Gegengift?“
„Eines, das die Dämpfe neutralisiert. Die Männer sollen sich getränkte Tücher vor den Mund hängen“, berichtete der junge Mann. Er sahaus, als wäre er noch nicht lange erwachsen, wenn überhaupt. Er war lang und dürr, mit kurzen, orangeroten Haaren und unzähligen Pickeln. Er hielt den Blick starr auf Anthony Jayden gerichtet.
„Sie soll ihre Männer ausrüsten“, befahl der Anführer Drachenbluts.
„Aber Sir, wenn es eine Falle ist …“
„Du hast mich gehört“, bellte Jayden.
Der Junge wendete seinen Raptor und schoss von dannen.
„Eine Giftmischerin, so, so. Kennst du sie?“
Nokori brauchte eine Weile, um zu verstehen, dass die Frage an sie gerichtet war.
„Ich … nein. Sir. Ich kenne sie nicht. Falls Sie glauben, dass ich sagen könnte, ob es eine Falle ist …“
„Es ist zweifellos eine Falle“, fiel Jayden ihr ins Wort. „Niemand würde so verbissen kämpfen und dann einfach die Seiten wechseln. Makami hat einen guten Instinkt.“
„Eine Falle – aber du hast dem Jungen doch eben gesagt -“, Nokori konnte nicht weiter sprechen. Ihr Herz raste.
Jayden wandte sich um und sah ihr in die Augen. Er blinzelte nicht. Sein Gesicht war hart und kalt wie Stein.
„Es ist eine Falle. Eine gut durchdachte Falle. Das muss man deinen Freunden zugestehen, sie sind einfallsreich. Es wäre Verschwendung, wenn ihre List nicht wenigstens etwas Erfolg haben würde.“
„Dann werden deine Leute sterben!“, Nokori war fassungslos. Sie fürchtete, dass sie sich mit ihrem offenen Widerstand um Kopf und Kragen redete, doch sie konnte nicht länger schweigen. Zu lange stand sie schweigend an Jaydens Seite, fernab des Krieges, und wartete auf die Entscheidung, die eines Tages fallen musste. „Du hast diese Männer zum Tod verurteilt!“
„Sieh dich doch um“, meinte Jayden. „Ich habe so viele. Männer. Frauen. Tiere. Ich bin ihrer überdrüssig.“
„Über – überdrüssig?“, Nokori stand der Mund offen.
„Das Leben ist reizlos, wenn man alles hat“, meinte Jayden leichthin. „Ich könnte diesen Kampf mit einem Fingerschnippen beenden. Deine Freunde wären tot, meine Leute gerettet. Aber wo bleibt da der Spaß? Ich will meinen Gegnern die Chance geben, zu überleben. Ich will wissen, was Thanatos euch alles erzählt hat, wie viel ihr wisst. Und außerdem … will ich Thanatos. Irgendwer aus deiner Gruppe muss wissen, wo er ist. Ich werde ihn finden!“
Nokori schwieg. Ihr fiel nichts ein. Auch sie befand sich auf der Suche nach Thanatos. Zum ersten Mal in ihrem Leben, so schien es ihr, hatte sie jemanden gefunden, den sie bewunderte und mit dessen Hilfe sie wachsen konnte. Thanatos war dieser Jemand. Doch nun musste sie sich eingestehen, dass sie sich auf der Suche nach ihm hoffnungslos verirrt hatte.
„Dann … willst du nicht gewinnen?“, fragte sie leise.
„Natürlich will ich“, meinte Anthony Jayden hochmütig. „Und ich werde auch gewinnen.“
„Wozu dann diese Verschwendung?“, Nokori sah wieder zur Schlacht, wo Menschen kämpften, litten und starben. Wie es wohl den anderen aus Thanatos' Gruppe ging? Lebten sie noch alle? Angst griff mit eisigen Klauen nach Nokoris Herz. Lebten ihre Freunde noch, oder waren sie tot, wie auch Foxy?
„Sie alle spielen keine Rolle“, sagte Jayden mit monotoner Stimme. „Es sind Bauern, doch ich interessiere mich für die Dame und den König. Die Dame hat ihren Zug gemacht, nun warte ich auf das Schach. Auf den richtigen Moment. Dieses Blutbad, diese Verschwendung, wie du sie nennst – ist ein großer Frühjahrsputz. Wir räumen all die unwichtigen Statisten aus dem Weg. Und das ganze Leid wird Thanatos anlocken. Er wird aus seinem Versteck gekrochen kommen, wie der unverbesserliche Gutmensch, der er ist. Dann schnappt die Falls zu“, Jayden verdeutlichte es, indem er mit der Hand in die Luft griff, als würde er eine Fliege fangen. „Dann habe ich ihn!“
Nokori schüttelte wieder den Kopf. Ihr war schlecht. Der Tod und die Verzweiflung rings umher verursachten ihr Übelkeit. Die Angst um ihre Freunde und nun auch die Fremden, die für Drachenblut kämpften, weckte furchtbare Schreckensbilder.
Sie wich unwillkürlich ein paar Schritte von Anthony Jayden zurück.
Wer war dieser Mann, der von Thanatos sprach wie von einem guten Freund?
Wer war dieser Mann, der seine Schutzbefohlenen in den Tod schickte?
Welches Geheimnis verbarg er, jenes, das er Nokori anzuvertrauen versprochen hatte – solange sie ihn nicht enttäuschte. Hatte sie ihn enttäuscht? Würde sie … sterben? Ein weiterer unwichtiger Bauer in Jaydens großem Spiel?
Genau das war der Krieg für Anthony Jayden, erkannte Nokori jetzt. Es war ein Spiel, nichts weiter. Ein Zeitvertreib, als würde er Schach spielen und versuchen, Thanatos zu besiegen.
Nie zuvor hatte Nokori sich mehr gewünscht, dass Thanatos in der Nähe wäre. Er hatte sie immer beruhigen können, er hatte immer gewusst, was zu tun sei.
Sie strich über die Narbe in ihrer Seite, wo sie damals von dem Stegosaurus verletzt worden war. Wenn sie so darüber nachdachte, war sie dem Tod damals sehr nah gewesen. Nur durch Glück hatte sie überlebt. Durch Glück – oder durch Thanatos?
Sie sah Jayden von der Seite an und fragte sich, was die Zukunft bringen mochte. Was für ein Geheimnis konnte Jayden und Thanatos verbinden – wer war überhaupt die Dame, von der Jayden gesprochen hatte?
Und würde sie, Nokori, jemals die Wahrheit erfahren?
Am Berghang kam Geschrei auf, laute Rufe und Jubel. Ein Lächeln kroch über Jaydens Gesicht: „Ah! Endlich. Den Dodos gehen die Kugeln aus.“
Nokori verstand nicht, wie Jayden das auf die Entfernung erkennen konnte. Doch auch sie wandte den Blick zu dem Berg mit der abgerundeten Kuppe.
Irgendwo dort kämpften ihre Freunde um ihr Überleben, ohne zu ahnen, das noch deutlich mehr auf dem Spiel stand.