„Antreten!“, schallte es über den Hof.
Nokori, stramm aufgerichtet, die Hände im Rücken verschränkt, überquerte den Hof gemeinsam mit den anderen Rekruten. Sie waren etwa zwanzig Mann (und Frauen), allesamt Jäger, die jedoch noch nicht sehr lange bei Drachenblut waren. Nokori war der jüngste Neuzugang, doch Bran, der alteingesessene ihrer Neulingsgruppe, war ebenfalls erst ein Jahr lang im Lager.
Zum ersten Mal seit ihrer Aufnahme sah Nokori Anthony Jayden wieder, den Anführer von Drachenblut. Der blonde Mann marschierte vor der Gruppe auf und ab, die Augenbrauen hochmütig erhoben. Die Haare, die nur auf dem Kopf lang wuchsen, fielen ihm in die rechte Gesichtshälfte.
„Vortreten“, sagte Jayden zu einem jungen, braunhaarigen Jäger in der ersten Reihe. „Stegosaurus, ab.“
Der junge Mann verneigte sich leicht und ging im Eiltempo zu den Ställen der gepanzerten Pflanzenfresser. In ihrer Zeit hier hatte Nokori gelernt, dass die Saurier von Drachenblut in verschiedene Kategorien geteilt wurden, je nach Aussehen, Größe, Fähigkeiten und Ernährung.
„Vortreten. Dilophosaurus, ab“, bellte Jayden.
Eine ältere Jägerin mit ersten grauen Strähnen im dunkelroten Haar ging zu den Stellen der nicht gepanzerten Pflanzenfresser, wo jene Tiere waren, die nichts außer ihrer Geschwindigkeit in einen Kampf mitbrachten.
„Vortreten. Raptor, ab.“
Ein kleiner Junge, der aussah, als wäre er vielleicht zehn, schoss zu den Ställen der kleinen Raubsaurier davon. So und ähnlich wurden alle anderen Jäger verteilt, bis allein Nokori übrig blieb. Unruhig beobachtete sie Jayden aus dem Augenwinkel, der vor ihr auf und ab lief. Sie wagte nicht, die militärische Haltung aufzugeben, obwohl ihre Füße langsam schmerzen und sie gerne die Beine ausgeschüttelt hätte. Aber sie presste beide Füße in die Erde, hielt die Hände hinter dem Rücken und das Kinn erhoben.
Anthony Jayden blieb stehen. „Dein Name war Nokori.“
„Ja, Sir“, antwortete Nokori mit fester Stimme.
Jayden schwieg. Nokori fragte sich, warum sie keinen Saurier zugeteilt bekam. Es hieß, dass alle Drachenblütler in dem Kampf ziehen sollten, auch jene, die bisher im Lager zurückgeblieben waren. Den Gerüchten nach zu urteilen war auch Veath Makami zu dem wachsenden Heer gestoßen, das sich nun bereit machte, die Reste von Nokoris altem Lager zu zerstören.
„Du kennst die beiden Gruppen, die wir angreifen wollen, nicht wahr?“, fragte Jayden und riss Nokori damit aus ihren Gedanken.
„Ja, Sir.“
„Und kanntest du auch die beiden Pfleger, die geflohen sind?“
„Sir?“, Nokori wusste nicht, wovon Jayden sprach.
„Mir wurde von einem Zwischenfall berichtet. Du hast einen der beiden Pfleger angeschrien, nur wenige Stunden, bevor sie geflohen sind. Hat du ihnen zur Flucht verholfen?“
„Ich – nein!“, Nokori vergaß vor Schreck jede soldatische Haltung. Ihr Herz raste. Ashley – der Junge, der genau wie Ashley ausgesehen hatte! Von ihm sprach Jayden.
„Was ist dann geschehen? Warum sind die beiden direkt nach dem Zwischenfall geflohen?“, hakte Jayden nach.
Nokori schwieg. Sie konnte dem Anführer des Lagers ja kaum die Wahrheit erzählen – dass ihr der Junge wie ein Geist vorgekommen war und dass sie einen Moment lang gehofft hatte, Ashley wiedergetroffen zu haben. Die schüchterne, unauffällige und sehr tote Ashley.
„Die beiden haben sich Berichten zufolge deinen alten Freunden abgeschlossen“, fuhr Jayden fort. „Es riecht alles danach, dass du deinen ehemaligen Kumpanen etwas Unterstützung zukommen lassen wolltest.“
„So ist das nicht“, sagte Nokori leise und sah auf den Boden. „Ich weiß, dass es so scheint, aber es ist nicht so. Ich … ich hatte das Gefühl, dass etwas mit diesem Jungen nicht stimmt, deshalb habe ich ihn angeschrien. Ich konnte ja nicht ahnen, dass er fliehen würde.“
Endlich wagte sie es, Jayden anzusehen. Er hob beide Augenbrauen. „Etwas stimmte nicht mit ihm?“
Nokori schloss die Augen. „Er hat mich … an jemanden erinnert. Das ist unmöglich, ich weiß, aber so war es.“
Zu Nokoris Erstaunen fragte Jayden nicht weiter nach. Stattdessen zeigte sich ein bitteres Lächeln auf seinen Lippen. „Sag bloß, er erinnerte dich an einen Freund von dir, der vor einiger Zeit verstorben ist.“
Nokori sah auf. „Ich – ja! An eine Freundin. Es hätte ihr Zwillingsbruder sein können!“
„Freundin?“, wiederholte Jayden und zog die Augenbrauen zusammen. „Nun, das ist ungewöhnlich. Aber ich kenne solche Geschichten.“
„Was bedeutet das?“, fragte Nokori. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass es eine logische Erklärung für Ashleys scheinbare Reinkarnation gäbe.
Jayden schüttelte nur den Kopf. „Das kann ich dir nicht sagen. Weißt du, Nokori, wir kämpfen gerade darum, dass dieses Wissen geheim gehalten wird. Und ich fürchte, dass es nicht mehr lange ein Geheimnis bleiben wird. So oder so, ich kann es dir nicht sagen. Vielleicht – wenn wir gewinnen und wenn ich weiß, dass ich dir vertrauen kann – vielleicht werde ich es dir dann sagen.“
Nokori hielt die Luft an. Anthony Jayden sah ihr tief in die Augen, fesselte ihren Blick. Seine Stimme klang so verletzlich, dass es überhaupt nicht zu dem starken Anführer passen wollte, den er darstellte. Sie spürte, dass er sich durch seien Worte geöffnet hatte, mehr als gegenüber jedem anderem im Lager.
„Nokori“, sagte Jayden dann. „Ich kann dir doch vertrauen, nicht wahr?“
Nokori merkte, dass ihr Mund offen stand und vollkommen ausgetrocknet war. Sie konnte nur nicken.
Jayden richtete sich auf und nahm seine Wanderung wieder auf. „Du wirst ebenfalls in den Kampf ziehen, Nokori.“
Jayden schwieg.
„Auf … welchem Saurier?“, fragte Nokori vorsichtig nach.
„Auf dem Quetzal“, sagte Jayden ruhig. „Auf meinem Saurier.“
Nokori blinzelte. „Ich … äh, danke?“
Jayden ließ ein blasses Lächeln sehen. „Es ist Teil unseres Deals, Nokori. Ich vertraue dir. Ich vertraue dir so weit, dass ich deine Meinung im Kampf hören will. Ich will, dass du mir hilfst, deine Freunde entweder zu fangen oder zu töten. Du sollst dafür sorgen, dass beide Gruppen besiegt werden. Und wenn du mich überzeugst, so erzähle ich dir mehr über das Geheimnis, an dessen Oberfläche du bisher gekratzt hast. Wenn du mich nicht überzeugst … werde ich dafür sorgen, dass niemand jemals das Geheimnis lüften kann.“
Damit drehte Jayden ab und marschierte auf die Treppe zu, die hoch in der Mauer zu den Ställen der Flugsaurier führte. Nokori blieb alleine auf dem Platz stehen und konnte sich nicht rühren. Jayden hatte ihr ziemlich unverhohlen gedroht. Sie fragte sich, ob sie fähig sein würde, ihn im kommenden Kampf zu überzeugen, denn ansonsten … würde er sie vielleicht töten!
Nokori riss sich zusammen und folgte ihrem Anführer zu dem großen Quetzal, einem der größten Flugsaurier überhaupt und dem größten im Lager. Doch viel interessanter an dem Saurier waren die Geschichten, dass Anthony Jayden vor Jahren das Ei des Tieres gefunden und den Saurier per Hand aufgezogen hatte.
Keuchend erreichte Nokori den höchsten Stall, wo Jayden bereits auf dem Rücken des riesigen Flugsauriers wartete. Nervös stieg sie hinter ihm auf und versuchte, nicht in die Tiefe zu sehen. Jayden sah sie an und grinste, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht. „Auf in den Krieg.“
Ein junger Pfleger, der neben ihnen gewartet hatte, blies in ein Horn. Unter ihnen öffneten sich die massiven Tore in der Festungsmauer und die berittenen Saurier setzten sich in einer langen Kolonne in Bewegung. Nokori fühlte, wie der Flugsaurier sich unter dem Sattel anspannte.
Sie klammerte sich an einen Riemen und schloss die Augen, als der Saurier die gewaltigen Schwingen aufspannte und sich in den Himmel schwang.
Die Nachhut von Drachenblut, alle Jäger, die noch im Lager verblieben waren, setzte sich nun in Bewegung, um zu dem Rest des Heeres zu stoßen.
Zurück blieben nur die Pfleger. Nokori wünschte sich mit einem Mal, keine Jägerin zu sein. Wie gerne würde sie sich aus all diesen verwirrenden und beängstigenden Entwicklungen heraus halten!
Am Horizont erhob sich die Sonne. Der Tag der Entscheidungen begann.