„Viel Glück“, sagte Mikail leise, ehe sein Gesicht in der Dunkelheit des Blätterdaches über ihr verschwand. Kassia klammerte sich an die Seile der Schaukel, die Mikail eilig geknüpft hatte.
Langsam sank sie in die Tiefe, die vor ihrem Blick durch eine undurchdringliche Finsternis verborgen wurde. Es war kalt, der Wind ließ die Palmwedel der Bäume rauschen und zerrte an ihren Haaren, ihrer Kleidung und der provisorischen Schaukel.
Kassia schlug das Herz bis zum Hals. Sie wusste selbst kaum, warum sie sich hierzu entschieden hatte. Irgendwie fühlte sie sich schuldig. Wenn sie Mikail nicht um Hilfe gebeten hätte, so hätten sie später nicht vor Lucy fliehen müssen, ihre Gruppen hätten sich vielleicht nicht aufgetrennt und ihre Freunde würden nicht am Berghang unter ihr in einer tödlichen Falle sitzen.
Es war eine seltsame Verkettung von Umständen gewesen, die sie alle an diesem Berg zusammengeführt hatte. Und obwohl Kassia nicht alle Zusammenhänge durchschaute, fühlte sie sich schuldig. Nun wollte sie versuchen, Lucys Gruppe zu retten.
Eine halbe Ewigkeit hing sie auf der Schaukel und bewegte sich durch die Leere. Irgendwo über ihr hantierte Mikail mit den Rädchen seines Mechanismus', um sie abzusenken. Doch Kassia sah kaum, wie der Boden immer näher kam. Die Schwärze war alles, was ihre Höhenangst im Zaum hielt.
Ganz plötzlich streiften ihre Füße etwas. Kassia zuckte zusammen, ein leiser Angstlaut entwich ihren Lippen. Doch dann erkannte sie Grasbüschel, die über ihre Haut strichen. Der Boden – sie hatte ihn erreicht.
Ein Stück weiter und sie stieg von der Schaukel ab. Dreimal zog sie an dem Seil, das Signal für Mikail, dass sie sicher gelandet war. Kassia sah sich in dem schwarzen Wald um und versuchte, die Konturen der Bäume abzuschätzen. Sie musste diese Stelle später wiederfinden, sonst säße sie genau wie Lucys Gruppe in der Falle.
Nachdem sie sich hoffentlich den Ort eingeprägt hatte, lief sie los. Sie suchte die kleine Gruppe, die sie von oben gesehen hatten. Lucy, Henry und Galileo, sowie eine fremde Frau, in Begleitung einer kleinen Armee von Sauriern. Eine solche Gruppe konnte sich nicht leicht verstecken, und so dauerte es nicht lange, bis Kassia Schreie und Rufe hörte. Sie folgte den Geräuschen und wurde bald von dem Feuerschein geleitet, der zwischen den Bäumen hindurch drang. Vier Personen standen nah an dem Flammen und sahen in den Himmel. Die größte Person – langhaarig und streichholzdünn, unverkennbar Galileo – warf einen Stein, doch er schien sein Zeil zu verfehlen. „Elender Dieb!“
Die Gruppe gab auf, was auch immer sie taten. Alle vier ließen sich auf den Boden sinken.
Kassia zögerte. Es war einiges an Zeit vergangen, sie hatte nicht geglaubt, einen ihrer drei Freunde nochmal wieder zu sehen. Doch da saßen sie, vielleicht zehn schnelle Schritte entfernt: Lucy, immer noch jung und großäugig, doch mit einem strengen Zug um die Mundwinkel, der einer deutlich älteren Frau zugestanden hätte. Galileo war immer noch dürr, schien aber bereits sein fünftes Stück Fleisch zu essen, den Resten am Feuer nach zu urteilen. Henry war immer noch rundlich und hielt offensichtlich locker mit Galileo mit. Auffällig war, wie gut Henry seinen Bart gestutzt hatte. Obwohl ein Kampf bevor stehen würde, wirkten die beiden völlig sorglos, wie sie am Lagerfeuer saßen und leise scherzten. Gänzlich unerwartet wurde Kassia warm ums Herz. Sie hatte die drei vermisst. Über die Zeit waren sie zu ihrer Familie geworden, egal, was geschehen war.
Die vierte Person kannte Kassia nicht. Es war eine Frau mit langen, schwarzen Haaren, die sie zu einem strengen Zopf trug. Sie war schlank und dünn, mit wenig Oberweite, dafür aber einem perfekten Hintern. Kassia fühlte sich gleich doppelt so plump und hässlich. Diese Frau strahlte eine Art von Selbstbewusstsein aus, das Frauen wie Kassia in die Flucht zu treiben pflegte.
Kassia atmete tief durch und nahm ihren ganzen Mut zusammen, dann trat sie langsam aus dem Wald hervor und in den Feuerschein.
Alle vier sprangen überrascht auf, Hände flogen zu den Waffen. Da Kassia nicht wusste, was sie sagen sollte, hob sie einfach die Hände neben die Ohren und starrte die anderen verschreckt an.
„Kassia!“, rief Galileo dann aus.
Sie lächelte schüchtern. Auch Henrys Gesicht hellte sich auf und der Mann kam um das Feuer herum, um Kassia in eine ziemlich unsichere Umarmung zu ziehen, aus der sich beide peinlich berührt lösten.
„Kassia“, sagte Lucy. Ihr Ton war nicht freundlich, allerdings auch nicht unbedingt feindselig. „Was tust du hier? Ich dachte, ihr sitzt oben fest?“
„Das tun wir auch, mehr oder weniger“, erklärte Kassia. „Mikail hat eine Art Aufzug gebaut. Ich musste mit euch reden.“
„Mikail, ja?“, schnaubte Lucy.
„Wer ist das?“, fragte die fremde Frau, die ihre Waffen als einzige noch in den Händen hielt. Mehrere gelbe Raubtieraugen beobachteten Kassia über das Feuer hinweg. Es waren hauptsächlich kleine Raubsaurier wie Oskar eines gewesen war. Dazwischen lagen Raptoren, doch der größte Saurier war das gewaltige, rotschwarze Etwas, das nicht ganz wie ein T-Rex aussah. Kassia schluckte nervös.
„Das ist Kassia. Sie und Mikail waren Teil unserer Gruppe“, sagte Lucy gedehnt. „Sie sind geflohen, als Drachenblut uns angegriffen hat.“
„So war das doch überhaupt nicht!“, protestierte Kassia schwach.
„Ich bin Liara“, sagte die Frau mit den schwarzen Haaren und senkte endlich Pfeil und Bogen. „Man nennt mich auch die Schlange.“
„Sehr … erfreut“, meinte Kassia lahm, die mit der ganzen Entwicklung etwas überfordert war. Warum benahm sich Lucy so feindselig?
„Nun, was willst du?“, fragte Lucy und klang diesmal offen feindselig. Kassia fragte sich, ob ihr Plan eine gute Idee gewesen war.
„Wir wollen euch Hilfe anbieten“, sagte sie. „Wir könnten euch irgendwie auf den Berg schaffen, wo ihr in Sicherheit wärt.“ Sie zuckte mit den Schultern. Das war alles gewesen.
„Ach? Auf einmal wollt ihr uns gegen Drachenblut helfen?“, fragte Lucy. „Woher kommt der Sinneswandel?“
„Lucy …“, mischte sich Henry ein, wurde aber nicht erhört.
„Habt ihr auch einen tollen Aufzug für unsere Saurier?“, fragte Lucy an Kassia gewandt, die schweigend den Kopf schüttelte.
„Fein, dann kommen wir auch gut ohne euch klar!“, schnaubte Lucy. „Wir brauchen euch nicht, Kassia. Geh und sag das deinem tollen Liebhaber!“
„Lucy“, meinte nun auch Galileo, „bist du dir sicher?“
„Mikail ist nicht -“
„Verschwinde!“, brüllte Lucy, bevor Kassia zu Ende reden konnte. Sie drehte sich tatsächlich um und ging. Ihr Herz raste.
Irgendetwas stimmt da nicht, fuhr es ihr durch den Kopf. Mikail hatte ihr beigebracht, auf ihr Unterbewusstes zu hören, auf verdrängte Erinnerungen und leise schleichende Gedanken – und diese Gedanken sagten Kassia nun, dass etwas ganz und gar nicht stimmte.
Sie fand den Aufzug und zog zweimal am Seil. Darauf setzte sich die Schaukel in Bewegung und trug Kassia zurück durch die kalte Nacht. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf gegen die Hand, die sich um das Seil schlang. Sie war müde. Wieso hatte sie es nicht geschafft, Lucy und die anderen zu retten? Galileo und Henry wären bereit gewesen, ihr zu folgen.
Warum hatte sich Lucy dagegen gewehrt? Und warum gehorchten die anderen ihr? Etwas stimmte nicht. Kassia war sich immer sicherer.
„Nun?“
Mikail war wieder da. Er reichte Kassia eine Hand und half ihr von der Schaukel zurück auf festen Grund.
„Lucy will nicht kommen“, berichtete Kassia. „Henry und Galileo gehorchen ihr. Und die vierte auch, sie heißt Liara. Liara die Schlange.“
„Reizender Name“, kommentierte Mikail und zog Kassia kurz an sich. Er musste spüren, wie aufgewühlt und verwirrt sie war. Kassia schloss die Augen und legte den Kopf an seine Brust. Wie immer schaffte Mikail es, dass sie sich wieder sicherer fühlte.
„Lucy meint, sie bleibt bei ihren Dinos, wenn wir die nicht hochziehen können“, berichtete Kassia weiter. „Obwohl das vielleicht nur ein Vorwand war.“
„Vielleicht sollte ich mir überlegen, den Aufzug zu vergrößern“, murmelte Mikail. Kassia hörte an seiner Stimme, dass er schmunzelte.
„Nein, solltest du nicht!“, schimpfte sie halbherzig.
„Doch, sollte ich“, widersprach Mikail sanft, aber bestimmt. „Denn eines Tages müssen wir wieder nach unten.“
„Lass uns für immer hier bleiben“, flüsterte Kassia beinahe lautlos. „Bitte. Lass uns einfach genau hier bleiben.“
Mikail lachte traurig und zog sie fester an sich.