Zayn fand Maurice im oberen Geschoss vor dem Käfig der schwarzen Nemesis. Der Neuling zitterte und hatte sich vor den Gitterstäben zusammengekauert. Dass Nemesis ihn nicht angriff, vermittelte einen Eindruck davon, wie klein, verletzlich und vor allem harmlos Maurice erschien.
„Was war da unten los?“, fragte Zayn. „Wer war diese Jägerin? Und wer war … Ashley?“
Maurice sah erschrocken auf und drückte sich noch fester gegen die Stäbe.
„Hey, alles gut. Ich bin es nur“, Zayn sprach so, wie er auch ein panisches Tier beruhigen würde. Es zeigte Wirkung.
„Das war Nokori“, stotterte Maurice. „Nokori. Sie ist eine Verräterin. Was tut sie hier? Sie darf mich nicht sehen.“
Der Redefluss war ungewöhnlich für Maurice, es machte Zayn Angst. Sein Freund wirkte verstört und verängstigt. Vorsichtig ging er zu dem anderen und legte ihm eine Hand auf die Schulter, um ihn zu trösten. Mit einer jähen Bewegung packte Maurice Zayns Hemd und zog ihn zu sich, die Augen weit aufgerissen.
„Wir müssen hier weg! Wir müssen Kassia und Mikail finden!“
„Wen?“, fragte Zayn, erschrocken über Maurice' Heftigkeit. Er versuchte, den Klammergriff um sein Hemd zu lösen, doch Maurice' Griff war zu fest. Hinter sich hörte er einen fragenden Ruf von Deynara. Der kleine Flugsaurier hockte irgendwo im Gebälk und machte sich offenbar größte Sorgen.
„Wir müssen hier weg!“, wiederholte Maurice.
„Das ist mir schon klar“, gab Zayn durch die zusammengebissenen Zähne zurück. In seinem ganzen Leben hier hatte er nicht halb so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen wie gemeinsam mit Maurice an diesem einen Tag. Der andere schien ihm Pech zu bringen und Zayn konnte nicht länger riskieren, dass sich höhergestellte Personen näher mit ihm befassten. Zu gefährlich.
Er konnte sich immer noch nicht von Maurice befreien.
„Maurice. Mauri! Ist schon gut, wir gehen ja weg!“
Der Griff löste sich. „Mori.“
„Was?“, fragte Zayn.
„Nenn mich Mori. Bitte.“
„Okay … Mori.“
„Du sagst, wir gehen?“, der andere sah ihn aus großen Augen an. „Jetzt?“
„Nein, wir fliegen“, meinte Zayn, der merkte, dass sich sein Entschluss soeben gefestigt hatte. Eigentlich hatte er warten wollen – sie würden Proviant brauchen, Waffen, Decken – irgendwas jedenfalls!
Dafür blieb keine Zeit. Er ließ Mori sitzen und rannte zur Sattelkammer, dann kam er mit einem Geschirr für einen Flugsaurier zurück.
„Komm, hilf mir mal.“
Er öffnete Nemesis' Tür und trat ein. Der große Tapejara fauchte zuerst, doch sie vertraute Zayn und ließ sich satteln. Zayns Finger zitterten leicht. Er hieb soeben mit einem Messer auf die Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft ein, kappte alle Verbindungen auf einmal mit einem einzigen, heftigen Schlag. Da gab es doch andere Stallburschen, von denen er sich eigentlich verabschieden wollte – wieso fielen ihm jetzt keine Namen ein? Er würde es später bereuen.
Sie sattelten Nemesis leise und in fieberhafter Eile. Dann ging Zayn noch einmal auf den Gang und pfiff leise. „Deynara!“
Sie landete auf seiner Schulter und stieß den Schnabel gegen sein Ohr. Zayn kraulte sie, dann ergriff er Nemesis' Zügel.
Plötzlich hörte er Schritte auf der Treppe, die hierher führte. Sein Herz stockte, als er Stimmen hörte. Obwohl er noch keine Worte verstehen konnte, erkannte er die Stimme von Gorst, dem Aufseher. Sicherlich hatte der Zwischenfall seine Aufmerksamkeit erregt, jetzt suchte er nach Maurice und Zayn!
„Schneller!“, zischte Mori und zog den Tapejara nach draußen. Nemesis hob den Kopf, als könnte sie die Freiheit schon riechen. Sie wurde schneller und kroch auf die Abflugschanze zu.
„Das ist mein Mädchen“, lobte Zayn und sah sich nach Mori um, der hinter ihnen her stolperte.
Mit donnernden Schritten erschien Gorst auf der obersten Treppenstufe.
„Hey! Stehenbleiben!“, der Aufseher überblickte die Situation sofort.
„Ah!“, schrie Zayn, als sich die Anspannung in einem großen Schrecken Bahn brach. Er trieb Nemesis an, bis sie auf der Schanze stand, einer großen, klaffenden Öffnung in der Mauer. Unten bewegten sich Menschen und Saurier über den Kopf, klein wie Spielzeuge.
„Mori!“, Zayn sprang in den Sattel, hielt den drängenden Tapejara zurück und streckte eine Hand aus, um dem anderen in den Sattel zu helfen. Nemesis zerrte an den Zügeln. Sie wollte fort.
Deynara kreiste kreischend über ihnen. Gorst sprintete auf sie zu. Maurice sprang mit einem mutigen Satz auf den Sattel und klammerte sich an Zayns Rücken. Der hieb dem Tapejara die Fersen in die Seiten und Nemesis sprang nach vorne, fiel, breitete dann in einem Donnerschlag die Flügel auf.
Zayns Herz machte einen schrecklichen Satz, als er in den Sattel gedrückt wurde. Nemesis flatterte ungeschickt, hatte das doppelte Gewicht offenbar falsch eingeschätzt. Sie sackten nach unten. Gorst erschien in der Schanze und schüttelte drohend die Faust.
Dann fing sich Nemesis und schwang sich elegant in den Himmel. Zayn und Mori kauerten sich in den Sattel, Deynara flatterte hinterdrein. Unter ihnen wurden Befehle gebrüllt, die Jäger strömten zu den anderen Flugsauriern, um die Verfolgung aufzunehmen. Sie würden eine Weile brauchen, um ihre Tiere zu satteln, doch sicherlich nicht lange.
Zayn zerrte an den Zügel und Nemesis glitt sanft dahin. Drachenblut blieb schnell hinter ihnen zurück.
„Wir haben es geschafft!“, flüsterte Maurice nach einer Weile, die sie durch den kalten Nachthimmel flogen. Inzwischen zeigte sich das erste Grau des Morgens.
Zayn nickte. „Aber noch nicht ganz. Wir müssen landen, Nemesis hält nicht mehr lange durch..“
„Dann finden sie uns!“, entsetzte sich Maurice.
Zayn war sich da nicht so ganz sicher. Nemesis war schnell, sehr schnell, und sie hatten ein paar geschickte Haken geschlagen.
„Deswegen suche ich ja nach einem guten Landeplatz“, stieß er hervor. Am liebsten wäre er ewig weiter geflogen, fern von der Erde und jeder Gefahr dieser Äußeren Welt, die er nur aus den Geschichten der Jäger kannte.
„He, wie ist es mit dem Berg da?“, Maurice beugte sich vor und deutete auf eine Kuppel, die sich vor ihnen aus dem Wald erhob: Ein grüner Berg mit einer seltsam abgerundeten Spitze, wo es sicherlich ein gut geschütztes Plateau gab.
Zayn lenkte Nemesis dorthin und gab das Signal zum Sinken. Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung hatte, wie er überleben sollte. Als er aufgewacht war, hatte ihn Drachenblut noch am gleichen Tag gefunden und aufgenommen. Er wusste von der äußeren Welt nur, dass sie gefährlich war. Es gab hier wilde Saurier, nicht solche wie Nemesis und Deynara. Es gab unzählige Gefahren und überhaupt – wie baute man ein Haus, wie formte man Waffen, welche Pflanzen konnte man essen?
Zayn war sich nicht sicher, ob er hier draußen überleben könnte. Sein einziger Trost war, dass Maurice vielleicht eine Ahnung haben könnte.
Während sie sich dem Berg näherten, bemerkte er noch etwas Seltsames: Aus irgendeinem Grund schien sich eine Hecke rund um das Plateau zu ziehen. Er konnte keine Spuren von menschlicher Bearbeitung erkennen, trotzdem wirkte die Hecke nicht, als sei sie natürlich gewachsen. Dazu war sie zu rund, zu gepflegt – sie wirkte wie ein Zaun.