„Ist das wahr?“
Ashley nickte, den Kopf gesenkt und das Gesicht hinter einem Vorhang ihrer Haare verborgen.
Kassia konnte es nicht glauben – oder wollte es lieber nicht glauben. Dinosaurier von der Größe einer Bergkette? Eine Armee gezähmter Monster, auf dem Weg zu ihrem kleinen Lager im Sumpf?
Wie die Wellenbewegung auf einem Teich ergriff die Unruhe Besitz von den Überlebenden, die sich um Ashley versammelt hatten.
„Natürlich ist das wahr“, ergriff Lucy das Wort. „Na und? Wir werden ihnen schon zeigen, wo der Hammer hängt!“
Obwohl sie wohl stark und kämpferisch klingen wollte, wirkte Lucy in diesem Moment wie ein Kind, dass verkündete, es werde später der größte Krieger der Welt werden. Ihre Ernsthaftigkeit wirkte nur noch naiver und kindlicher.
Kassia schloss einen Moment die Augen.
„Scheiße“, flüsterte Henry, der hinter ihr stand.
Kassia trat vor: „Wir müssen hier weg. Wenn wir uns beeilen und unsere Spuren verwischen, –“
„Nein!“, fiel ihr Lucy ins Wort. „Wir sind doch keine Feiglinge, dass wir vor Drachenblut fliehen! Wir werden kämpfen. Wir werden diesen Sumpf zu ihrer Hölle und ihrem Grab machen!“
„Lucy!“, sagte Kassia. „Wir sind keine Krieger. Wir haben keine Chance.“
„Ich habe einen Plan“, gab das Mädchen zurück. „Und der wird aufgehen. Wir werden Drachenblut zerschlagen, sie aufhalten.“
„Keiner von uns ist ein Krieger. Niemand von uns hat Ahnung vom Krieg!“, sagte Nokori und sprang Kassia unerwartet bei.
Lucy hob den Kopf und funkelte sie beide an. „Ich habe Ahnung. Ich war im Krieg. Bevor ich hierher gekommen bin, war mein ganzes Leben ein einziger Krieg. Und ich sage euch, dass wir gewinnen werden – solange ihr mir auf's Wort gehorcht!“
Schweigen schloss sich an.
„Du kannst dich erinnern?“, fragte Kassia schließlich.
Lucy nickte, den Kopf hoch erhoben. „Ich weiß, wo ich herkomme!“
„Aber … wie?“
„Ihr müsst euch akzeptieren – euer Wesen, mit allen Stärken und Schwächen, mit hellen und dunklen Seiten“, erklärte Lucy pathetisch, aber auch ein wenig widerwillig. „Und dann erinnert ihr euch an eure Vergangenheit.“
Die Überlebenden tauschten Blicke. Auch Kassia wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Es klang schön, sich wieder erinnern zu können. Es gab die Hoffnung, dass sie sich an Freunde und Familie erinnern könnte, an ihre Heimat.
Gleichzeitig wusste sie nicht, ob sie sich wirklich erinnern wollte. Sie würde immer noch hier fest sitzen, ohne einen Weg nach Hause. Und vielleicht waren die Erinnerungen ja nicht so schön, wie sie glaubte.
Irgendwo tief im Inneren war sie sich dabei sogar sicher: Ihr würde nicht gefallen, woran sie sich erinnern würde.
Ihre Diskussion war nach Lucys Enthüllung abgebrochen. Die einzelnen Gruppen zogen heute nicht los – sie hatten am gestrigen Tag mehr als genug gesammelt. So saßen sie beim Lager verteilt. Henry nahm ein paar halbherzige Ausbesserungen an der Hütte vor, dichtete das Dach neu ab und erneuerte die Strohsäcke, die ihnen als Betten dienten. Nokori schnitze sich neue Speere. Die Restlichen langweilten sich.
Kassia warf Steine auf die Seerosen, die vor ihr aus dem Sumpfwasser ragten. Sie saß etwas abseits, am Rand der großen Fläche, die sie trocken legen wollten. Sie verfolgte die Spritzer von Wasser nach jedem Steinwurf.
Irgendwann hörte sie damit auf. Sie dachte nach. In ihrem Kopf wirbelten bunte Formen und Gedanken durcheinander. Erinnerungsfetzen, die sich stärker nach vorne drängten. Sorgen, die mit lauter Stimme nach Aufmerksamkeit verlangten. Und die Sehnsucht nach Mikail. Sie hoffte, dass es ihm gut ging, wo auch immer er war.
Kassia fror, obwohl es nicht einmal besonders kalt war. Aber seit Mikails Verschwinden – und all den anderen schrecklichen Dingen, die damit in verwirrendem Zusammenhang standen – fühlte sie sich allein. Sie merkte, wie die Gruppe zerbrach, wie Hass, Neid, Misstrauen immer tiefere Wunden schlugen.
Sie hatte Angst. Manchmal wachte sie aus Träumen auf, schweißgebadet, in denen sie durch den dunklen Wald gerannt war, auf der Suche nach einem vertrauten Gesicht, aber alle hatten sich abgewandt, waren verschwunden, fortgegangen.
Und Kassia war allein. Vollkommen allein. Sie rief nach Mikail, dann rief sie nach Ashley, nach Foxy, sie rief nach Henry, Galileo und Nokori, schließlich auch nach Lucy und Thanatos.
Aber niemand antwortete, nur unsichtbare Wesen brüllten in der Dunkelheit.
Kassia fuhr zusammen, als sie ein Platschen hörte. Wie von einem Stein, der ins Wasser fiel, aber sie selbst hielt die Steine nur noch in der Hand und warf nicht mehr.
Sie sah sich um und bemerkte ein bräunliches Wesen, dass ungeschickt durchs Wasser watschelte, stolperte, unterging und prustend wieder auftauchte.
Es war ein Vogel, ein kleine, plumper Vogel mit einem eindrucksvollen Schnabel. Während Kassia noch verwirrt hinsah, kam der Vogel auf sie zu, dann stieß er mit dem Schnabel gegen ihre Hand und gab ein gurgelndes, keckerndes Geräusch von sich.
„Na, hallo, Kleiner!“, sagte Kassia verzückt. Es war ein wilder Dodo, jedoch so zutraulich, als kenne er sie schon seit Jahren. Sie kraulte ihn grinsend.
Dann stießen ihre Finger auf etwas im Nacken des Vogels.
Sie befürchtete das Schlimmste: einen prähistorischen Parasiten, oder eine riesige Spinne, ein Geschwülst.
Es war ein Zettel. Jemand hatte dem Dodo ein Halsband gebastelt und einen kleinen Zettel daran befestigt.
Kassia entfaltete das Papier nach kurzem Zögern.
Darauf standen zwei Worte, ungeschickt mit Kohle darauf geschmiert und bereits ziemlich verwischt. Den in dem Papier steckte besagtes Stück Kohle.
Die Worte lauteten: Hallo Kassia!
Ihrer Kehle entrang sich ein unterdrücktes Schluchzen. „Mikail!“, flüsterte sie aufgeregt. Es konnte gar nicht anders sein. Sie berührte ihre Wangen und stellte fest, dass sie geweint hatte.
Sie war erleichtert, dass es Mikail gut ging. Und wie es für den Erfinder typisch war, hatte er einen genialen Einfall gehabt. Der Brief-Dodo keckerte und suchte in der Erde nach etwas zu fressen. Er fand einen Stein und knabberte daran.
Kassias Finger zitterten, deswegen brachte sie nur ein Wort fertig, das sie auf das gefaltete Papier schrieb.
Sie schrieb: Hilfe!
Dieses Wort musste alles ausdrücken: Die Trauer um Foxy, die Angst vor Drachenblut, die Sorge um ihre Gruppe. Mikail musste es einfach verstehen. Er musste verstehen, wie hilflos Kassia sich fühlte. Wie sehr sie jemanden brauchte, dem sie vertrauen konnte, und der ihr die furchtbare Last von den Schultern nahm, für alle sorgen zu wollen.
Sie brauchte Mikail. Koste es, was es wolle.