01.10.2019
Gold
Schon seit gut zehn Generationen regierte Dracolus über sein eigenes kleines Reich, vom Sonnenlicht unberührt. Sein Volk ließ sich dabei in zwei Teile aufspalten: der Teil, der ihm lieb war und der, den er als äußerst unangenehm und lästig empfand.
Die Lieblinge unter seinem geteilten Volk waren ihm stets nahe und funkelten mit jedem Atemzug, den er tat, ein klein wenig. Denn mit jedem Atem, den er ausstieß, entwich ihm ein kleines Lodern. Ein kurzes Aufglimmen, welches man entweder durch seine Nüstern oder, bei geöffnetem Maul, aus dem Rachen beobachten konnte. Mit jedem Mal, wenn sein inneres Licht auf seine Lieblinge schien, erstrahlten sie golden, Münze um Münze. Und jedes Mal erfreute er sich an ihrem Glanz. Immerhin waren sie seine Lieblinge.
Dracolus bezeichnete sich selbst stets als Schatzmeister der Welt. Denn all das Gold, welches die Menschen zutage beförderten, wurde stets ihm gewidmet. Der Berg, auf dem er thronte, hatte in all den Jahrhunderten beachtliche Ausmaße angenommen und er war stolz darauf. Wenn die Menschen etwas konnten, dann Wertsachen finden. Das war aber auch schon alles, mit dem er zufrieden war. Ansonsten waren die Menschen - neben dem Gold der andere Teil seines Volkes - nichts, als enttäuschend. Er mochte gar nicht zählen, wie oft sie sich gegenseitig betrogen hatten, um von irgendeiner Lappalie zu profitieren, ohne vor Augen zu haben, was sie dafür an Wichtigkeiten riskierten oder gar opferten. Törichtes Pack.
Aber Gold sammeln konnten sie, daran musste er sich stets erinnern.
Nun, zumindest war das mal so. Doch über die letzten Jahre hinweg wurde die Ausbeute immer magerer. Es hieß von ihrer Seite aus, dass die Erde immer weniger von diesem recht formbaren Erz hergab.
Dracolus schnaufte bei dem Gedanken. Fast hätte er losgelacht, denn um das fehlende Gold zu kompensieren, hatte man nun allen Ernstes einen Menschen als Opfergabe zu ihm geschickt. Ein heranwachsendes Weibchen. Er wusste schon genau, weswegen er diese Menschlinge nicht mochte, da mussten sie ihm nicht noch mehr Gründe geben. Sonst musste er überlegen, sie wieder zu terrorisieren.
Das Menschenweibchen schien ebenso wenig von der Situation begeistert. War schon demotiviert in seinen Hort gekommen und nun stand es vor ihm, mit dem Blick voller Skepsis.
Nun, er war es nicht, der es hergebeten hatte. Aber er sollte das Beste daraus machen - oder überhaupt etwas Gutes. Wenigstens etwas Akzeptables. Tolerables.
Er schnaufte glimmend und seufzte. "Was führt dich her, Mensch?"
"Das fehlende Gold und ein Schlag vom Schicksal", verkündete es, ohne die Miene zu verziehen.
"Schlag vom Schicksal?" Er beugte seinen Kopf runter, um die Stimme des Menschen besser zu vernehmen.
"Du glaubst doch nicht ernsthaft, ich wäre freiwillig hergekommen. Das Schicksal muss mich hassen, also hat es mich hergebracht. Und nun sind wir hier, die Situation so unangenehm, wie ein Schlag in die Magengrube. Oder ist dem nicht so?" Das Weibchen verschränkte die Arme und fokussierte seine großen, roten Augen.
Dracolus legte den Kopf leicht schief. "Nun, ich schätze schon. Auch, wenn ich nie erlebt habe, wie sich solch ein Angriff anfühlt. Zumindest für euch schwächliche Menschen möge dies wohl zutreffen."
"Ach, komm mir nicht mit Menschen!", wank sie kopfschüttelnd ab. "Die können doch nichts, außer sich bei großen Schwierigkeiten einen Sündenbock zu suchen, um die Last an ihm abzuladen und dann fröhlich weiter ihrer Wege zu ziehen, als wäre nie was geschehen."
"Ich nehme an, dieser Sündenbock bist du."
"Wer denn sonst? Aber wenn ich so darüber nachdenke, ist es vielleicht doch gar nicht so übel, hier in diesem Loch gelandet zu sein. Immerhin muss ich dann keine Mitmenschen mehr ertragen. Und umgeben von Gold bin ich außerdem - für viele sicherlich ein Traum." Das Menschenweibchen hob eine der unzähligen Münzen auf und betrachtete neugierig ihre antike Gravur.
Daraufhin knurrte Dracolus. "Du musst des Lebens müde sein, einfach so den Drachenschatz anzurühren."
"Und wenn schon, schlimmer kann es ja wohl kaum kommen. Da erlaube ich mir eben was. Immerhin glaube ich kaum, dass du mich zu meinen Artgenossen zurückschickst." Sie zuckte mit den Schultern und warf die Münze unachtsam zurück zum Rest. Dann schaute sie wieder hinauf zum Drachen. In ihren Augen kein Funken Angst.
"Mut oder Wahnsinn?", murmelte der Drache. "Ich kann es nicht sagen …"
"Wie wär's mit beidem?" Nun setzte sie sich im Schneidersitz vor ihm hin und verschränkte abwartend die Arme.
"Willst du mich provozieren, Gör?!"
Sie legte den Kopf schief. "Man nennt dich Dracolus, richtig?"
"Ja! Willst du das für deine Grabinschrift wissen?" Er fletschte die Zähne und ein Glimmen trat zwischen ihnen hindurch.
"Hm, das wäre durchaus eine Idee … aber nein, ich wollte nur sichergehen, damit ich weiß, wie ich dich nennen soll."
"Ach, und wie heißt du?", fragte Dracolus gereizt.
"Gute Frage", ließ sie sich auf den Rücken ins Gold fallen und streckte alle Viere von sich. "... Man nennt mich aber Serris."
"So, Serris? Was gedenkst du Gör eigentlich, als Opfergabe zu erreichen?"
Sie überlegte kurz. "Singen? Tanzen? Nichts? Oder ganz einfach ein Gespräch führen? Hey, ich bin Prototyp, ich habe keine Ahnung, was so eine Opfergabe machen soll! … Du willst mich aber nicht essen, oder?" Ihre erhobenen Augenbrauen zeigten, dass die Frage ernst gemeint war.
Das war etwas, über das Dracolus einen Moment lang durchaus nachdachte. Allerdings empfand er kein Bedürfnis danach, ihr Fleisch zu kosten. Nicht in dem Moment und - so sehr er es hasste - wohl auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt. Er … verstand es selbst nicht. Immerhin provozierte sie ihn mit einigen ihrer Bemerkungen und dennoch … das war verwirrend.
"Bist du verwirrt?", fragte sie aus ihrer Liegeposition aus. Inzwischen hatte sie die Arme hinterm Kopf verschränkt.
Dracolus knurrte und schüttelte energisch den Kopf. "Erzähl mir lieber etwas von draußen! Irgendwelche Geschichten der letzten Jahrhunderte oder dergleichen."
"Wie du meinst", gab sie nur von sich und überlegte. Dann begann sie mit ihren Erzählungen, doch Dracolus hörte ihnen nur halbherzig zu. Er verstand immer noch nicht das Gefühl in ihm, das sagte, er wolle dieses Menschengör nicht verschwinden sehen.
War er etwa schon so alt und verweichlicht? Reichte ihm das Gold nicht mehr?
Er wusste es nicht.